Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Kein echter Pluralismus
Im Osten ist die Planwirtschaft gescheitert. Damit scheint die Überlegenheit unseres pluralistischen Marktsystems endgültig bewiesen. Steht dieses nun makellos da?
Im Osten ist die Planwirtschaft gescheitert. Damit scheint die Überlegenheit unseres pluralistischen Marktsystems endgültig bewiesen. Steht dieses nun makellos da?
Gerade jetzt, da die Suche nach neuen Lösungsansätzen im Osten ausbricht, da ratsuchende und-gebende Delegationen hin- und herreisen, ist wohl auch ein Blick auf die Schwächen unseres Systems angebracht.
Der Zusammenbruch im Osten ist das Scheitern einer doktrinären, absolut gesetzten Gesellschafts-theorie, des Marxismus. Es ist naheliegend, daraus den Schluß zu ziehen, daß die einzige Form, in der eine Gesellschaft den Erfordernissen unserer Zeit gerecht wird, der Pluralismus ist. Karl Heinz Ritschel, Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten" brachte diese Sicht auf den Punkt: „Eine Gesellschaft kann sich nur dann entwickeln, wenn sie verschiedene Möglichkeiten und Optionen für die Zukunft offenhält. Es geht weniger denn je, Ziele und Werte dauernd festzuschreiben. .. Und es geht darum, vor dem wuchernden Fundamentalismus zu warnen, der unheilvoll ist, egal von welcher ideologischen oder religiösen Richtung er kommt..."
Das entspricht unserem heutigen Freiheitsverständnis: Jeder hat das Recht, seine Lebensziele, seine Weltanschauung frei zu wählen. Niemand darf dem anderen seine Sicht aufzwingen. Daher auch die Warnung vor den Fundamentalisten, jenen, die meinen, im Besitz der Wahrheit zu sein, und die nur allzu leicht dazu neigen, diese Wahrheit anderen mit Gewalt aufzunötigen. Die Geschichte des Gesinnungsterrors im Ostblock ist auch da eine nicht zu übersehende Warnung.
Unsere Gesellschaft verzichtet also darauf, Lebensentwürfe zu werten. Früher oder später wird sanktioniert, was ausreichend viele Bürger praktizieren. Das gilt für unzumutbare Arbeitsbedingungen, Ehebruch, Tierquälerei bei Tierversuchen, Homosexualität, Pornographie, Abtreibung und wird wohl bald für Drogenkonsum und Euthanasie zutreffen. Das wiederkehrende Argument für den Verzicht auf Normierung ist, man dürfe den einzelnen nicht gängeln: Niemand müsse ja eine nervenverschleißende Tätigkeit annehmen, sich scheiden lassen oder Pornographie konsumieren. Aber jenen, die es so wollen, dürfe man nicht dreinreden. Keine Norm hält lange dem Vorwurf stand, sie diskriminiere eine Randgruppe.
Sozialforschungsinstitute verschiedener europäischer Länder haben 1981 Daten zum Thema „Moralische Strenge und Permissi-vität" erhoben. Das Ergebnis der Befragungen: Großzügig beurteilten die Europäer außereheliche Verhältnisse, Homosexualität, Euthanasie, Abtreibung, Scheidung, Totschlag aus Notwehr. Streng verurteilt wurden hingegen: „Ausborgen" eines Autos, politischer Mord, Drogenkonsum, Behinderung freier Arbeitsausübung, Hehlerei, Bestechung... Strenge also, wenn es um Eigentum und Ordnung geht, Großzügigkeit im Umgang mit dem Leben.
Liberalität gibt es also nicht in allen Lebensbereichen. Der Umstand, daß Ladendiebstähle am laufenden Band stattfinden oder daß im großen Stil Steuer hinterzogen wird, hat keineswegs einen Trend zur gesetzlichen Emanzipation des einzelnen von der Wirtschaftsordnung begünstigt. Dabei sind gerade hier die Verstöße ganz beachtlich: Mehr als 100 Milliarden Schilling werden gegen bestehende Gesetze in der „Schattenwirtschaft in Österreich" umgesetzt! Da wird aber kein Ruf nach Legalisierung von Vergehen laut.
Im Gegenteil: Die zur Steuerung unserer Gesellschaft notwendigen Spielregeln werden immer zahlreicher. Weltweit findet eine atemberaubende Vermehrimg der Gesetze und Verordnungen statt (in Österreich hat sich die Zahl der Gesetzesblätter seit 1950 etwa verfünffacht). Wenn es um die Organisation der alltäglichen - weitgehend von wirtschaftlicher Aktivität bestimmten - Abläufe geht, da nehmen die Normierungen, die Standardisierungen, die Kontrollen, die Notwendigkeit von Bewilligungen zu. Vor allem, wo das liebe Geld im Spiel ist, kennen wir kein Pardon mit den Launen des einzelnen. Wer hat etwa Verständnis für die „Randgruppe" der Bankräuber, die sich ein paar nette Monate im sonnigen Süden oder ein Ein-Familien-Haus finanzieren wollen?
Und damit wird offenkundig: Wir leben in einem Scheinpluralismus. Wir begreifen die Gesellschaft heute nur mehr als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich auf Spielregeln zur Erzeugung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen geeinigt haben. Die Mitwirkung am Produktionsprozeß gibt dem Leben der Beteiligten Sinn. Danach richtet sich alles andere: das Bildungssystem, die Gestaltung des Familienlebens, die Kinder- und Altenbetreuung. Alles andere ist im Grunde genommen untergeordnet.
Wie jede Gemeinschaft hat auch unsere Gesellschaft ein geistig verbindendes Band, den Ökonomismus. Wir stehen unter dem Diktat der Kosten-Nutzen-Rechnung. Der Utilitarismus (sein Motto: gut ist, was der Mehrheit nützlich scheint) wird zum ethischen Maßstab. Er wuchert in immer mehr Lebensbereiche hinein. Wo neue technische Möglichkeiten auf eine zahlungskräftige Nachfrage stoßen, werden bestehende ethische Bedenken beiseite geschoben, wie wir es derzeit in der Biotechnik erleben:
Da wurde wieder einmal zuerst geforscht, dann wirtschaftliches Interesse mobilisiert, dann noch mehr geforscht und technisch entwickelt. Und immer noch ist nicht geklärt, ob man all das auch tun darf. Nun werden Kinder in der Retorte erzeugt, tiefgefroren, durch wissenschaftliche Versuche „verbraucht". Aber kein Aufschrei der Empörung über diese Verdingli-chung des Menschen wird laut, sondern in Ethikkommissionen ohne verbindlichen Maßstab versuchen Forscher den enormen Nutzen solchen Tuns für die Krebs-und andere Forschung herauszustellen. Und unter dem Motto: „Es geschieht ja ohnedies", werden wir uns auch mit dieser Barbarei abfinden, wie wir es schon mit der Abtreibung getan haben.
Der Biologe und Philosoph Günter Altner formuliert es so: „Die Kommerzialisierung der irdischen Lebenssysteme steht ins Haus... Leben - reduziert auf bloßen Gebrauchswert - soll gentechnisch perfektioniert werden für alle Zwecke, mit denen sich Geld machen läßt... Dabei wird der Forschungseinsatz gegen Hunger, Krankheiten und Umweltzerstörungen zum heuchlerischen Motto für den großen Kahlschlag."
Die Wirtschaft sei ein Moral verzehrendes System, hat schon Wilhelm Röpke, einer der Väter der Marktwirtschaft festgestellt. In einer pluralistischen Gesellschaft, die jedes Urteil über Gut und Böse ablehnt, überwuchert das Profitdenken auf lange Sicht alles.
„Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon", hat uns Jesus gewarnt. Die scheinbar pluralistische Gesellschaft des Westens hat eindeutig für den Mammon optiert. Sie hat damit zwar enorme wirtschaftliche Erfolge erzielt, aber es ist längst auch schon offenkundig, daß sie ihre eigene Basis zerstört: durch Aufbrauchen natürlicher Ressourcen, durch Zerstörung des Lebensraumes, durch Auflösung bewährter Formen menschlichen Zusammenlebens, durch Entzug des Transzendenzbezugs, der allein dem Leben Sinn gibt. Das Scheitern im Osten sollte daher hier im Westen nicht als Selbstbestätigung mißverstanden werden.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!