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Ein Buch macht Revolution

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Das Interesse der französischen Linken richtet sich auf die Spannungen, die zwischen dem Starphilosophen der Kommunistischen Partei, Roger Garaudy, und dem Zentralkomitee ausgetragen werden. Garaudy, seines Zeichens Philosophieprofessor und maßgebender Denker Frankreichs, wurde gerade in den letzten Wochen häufig zugleich mit dem Österreicher Ernst Fischer zitiert. Als Garaudy sein grundlegendes Werk „Le grand Tournant du Socia-Msme“ (Paris 1969) veröffentlichte, war er sich des drohenden Konfliktes mit seiner Partei bewußt. Sie hatte es geschickt verstanden, ihre persönlichen und ideologischen Krisen vor der Öffentlichkeit wie den eigenen Parteimitgliedern zu verschleiern. Die Partei hatte mit unnachsichtiger Schärfe in den letzten 30 Jahren eigenwillige Politiker und Denker wie Andre' Marty, Charles Tülon, Auguste Lecoeur und Laurent Casanova ausgestoßen. Am 19. Dezember 1969 verdammte das Zentralkomitee im Namen der Proletarischen Internationale das Werk Garaudys, das eine „grundsätzliche Revision des historischen Materialismus und eine Verneinung der leninistischen Doktrin der Kommunistischen Partei“ darstelle. Zu aller Überraschung erlaubte man es Garaudy, am 2. Jänner 1970 im Zentralorgan der Partei, „L'Humanite“, zu den Anklagen des Leitungsorga-nes Stellung zu nehmen.

Nicht Breschnjews Sozialismus!

Der Philosophieprofessor geht von zwei Ereignissen aus: dem Frühling in Prag und den Mai-Juni-Ereignissen 1968 in Paris. Obwohl der Kommunistischen Partei jedesmal bei diesen Vorfällen eine bestimmende Rolle zugestanden wurde, zeigte sich die Partei unfähig und ohnmächtig. Der Verfasser verurteilt energisch

den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Mächte in die Tschechoslowakei und formuliert eindeutig sein Glaubensbekenntnis: „Der Sozialismus, den wir in Frankreich errichten wollen, ist keineswegs mit jenem zu vergleichen, den Bresch-njew der Tschechoslowakei aufzwang.“

Die Kommunistische Partei ist nicht allein das politische Büro oder das Zentralkomitee, das einen starren demokratischen Zentralismus pflegt. Im Gegenteil, die technische und wissenschaftliche Revolution, verbunden mit dem schöpferischen Aufblühen des Menschen, erfordert eine aktive Mitarbeit „des menschlichen Menschen“ in allen Stufen der Gemeinschaft. Eine permanente Revolution in sämtlichen Lebensbereichen setzt in diesem Jahrzehnt ein. Die Kybernetik triumphiert über die Mechanik. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird die Wissenschaft zur Produktivkraft schlechthin.

Eine „neue Klasse“?

Roger Garaudy untersucht die gesellschaftlichen Strukturen in den USA, der Sowjetunion und widmet eine grundlegende Analyse dem jugoslawischen Modell, dem seine uneingeschränkte Sympathie gehört. Für den Leser bemerkenswert ist seine Voraussicht einer zukünftigen Gesellschaft in Frankreich und Westeuropa. Für Garaudy waren die Ereignisse Mai/Juni 1968 die ersten Streiks im kybernetischen Zeitalter, da nicht nur der manuelle Arbeiter die Fabriken verlassen hat, sondern sich die Mehrheit der Studenten und des leitenden Führungspersonals der arbeitenden Klasse angeschlossen hätte. Damit wurden die Umrisse und Grenzen einer neuen Klasse sichtbar. Das bisherige Konzept einer sozialistischen Revolution, das den bewaffneten Aufstand der Arbei-

ter vorsieht, gefolgt von einer Erhebung der Kleinbauern, ist damit hinfällig. Ja, eine neue Klasse ist im Entstehen, die um Anerkennung im bisherigen System kämpft. Geht man von einem Index 100 als Referenz aus, vermehrte sich die Anzahl der nichtqualiflzierten Arbeiter in den letzten 15 Jahren auf 108, der qualifizierten Arbeiter auf 131, der Ingenieure auf 148, des gehobenen Führungspersonals auf 151 und der Techniker auf 171. Von 1954 bis 1962 verzeichnete man ein Wachsen der gehaltsempfangenden Intellektuellen von drei auf vier Millionen und einen Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung von vier auf drei Millionen.

Für eine pluralistische Gesellschaft

Garaudy propagiert eine politische und wirtschaftliche Demokratie, die ihr Zentrum im Betrieb hat. Die Aufwertung des Parlamentes und eine direkte Demokratie neuen Typs sei wünschenswert. Diese direkte Demokratie ist durch eine umfassende und ständige Information mit H^lfe der Kybernetik und des Fernsehens zu sichern. Die bisherigen Formen des Produktionsprozesses sind durch Bedingungen zu ersetzen, die sich den gegebenen Umständen anpassen. Der bürokratische Apparat der Kommunistischen Partei ist aufzulösen, die permanenten Sekretäre sind in den Produktionsprozeß einzugliedern. In allen Instanzen der Partei ist künftig die freie Diskussion gestattet. Der Autor spricht sich für einen Dialog mit sämtlichen Kräften aus, die den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Er stipuliert ein dauerndes Gespräch mit den Christen. Der moderne Sozialismus lehnt eine offizielle Philosophie ab. Garaudy rechnet mit seinem Parteiausschluß.

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