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Tiroler am Finger Gottes

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Am 25. Juli 1824 wurde in Südbrasilien die zu Ehren der brasilianischen Kaiserin, Dona Leopoldina (1), „Deutsche Kolonie Säo Leopoldo“ benannte Siedlung gegründet. Karl Fouquet sagt dazu: „Es ist der erste voll geglückte Versuch der Kolonisation mit Fremden und ein Unternehmen, das vielen Folgenden zum Vorbild dient. So wird, seit 1924, der 25. Juli mit einigem Recht als der Tag der deutschen Einwanderung gefeiert“ (2). So erfolgreich und vorbildlich war diese Gründung, daß Brasilien nun den 25. Juli als Gedenktag, nicht nur der Einwanderung aus dem deutschen Sprach- und Kulturraum, sondern, darüber hinaus, der Immigration als solcher feiert.

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Am 25. Juli 1824 wurde in Südbrasilien die zu Ehren der brasilianischen Kaiserin, Dona Leopoldina (1), „Deutsche Kolonie Säo Leopoldo“ benannte Siedlung gegründet. Karl Fouquet sagt dazu: „Es ist der erste voll geglückte Versuch der Kolonisation mit Fremden und ein Unternehmen, das vielen Folgenden zum Vorbild dient. So wird, seit 1924, der 25. Juli mit einigem Recht als der Tag der deutschen Einwanderung gefeiert“ (2). So erfolgreich und vorbildlich war diese Gründung, daß Brasilien nun den 25. Juli als Gedenktag, nicht nur der Einwanderung aus dem deutschen Sprach- und Kulturraum, sondern, darüber hinaus, der Immigration als solcher feiert.

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Die Anfänge dieser Entwicklung reichen zurück bis zum Beginn der planmäßigen Besiedlung Brasiliens, seit 1530, durch die Portugiesen. Bereits zwei Jahrzehnte später unternahm Hans Staden aus Hessen eine Brasdlienreise; heimgekehrt, gab er in sedner „Wahrhaftigen Historia“ das erste Bild einer in Europa völlig unbekannten Weit. Im Laufe der Jahrhunderte vermischte sich daraufhin das portugiesische Blut teils mit dem eingeborenen, indianischen, teils mit dem 200 Jahre hindurch importierten afrikanischen. Portugals Geschenk an Brasilien, die Mulattin, wurde geboren. Im weiteren Zug dieser Entwicklung kamen dann europäische und außereuropäische Elemente hinzu. Der kumulative Effekt dieser gewaltigen Blutsvermischung formte die brasilianische Nation und verlieh ihr ein Gepräge so eigener, glücklicher Art, daß sie, unbeschwert von Rassenproblemen, ihren Weg in die Zukunft finden konnte.

Richtunggebend für diesen Weg waren die ersten Jännertage des Jahres 1808, als die portugiesische Königsfamilie, mit dem König, Dom Joäo VI., und dem elfjährigen Infanten Dom Pedro auf der Flucht vor Napoleon in der Guanabara-Bucht landete. Wenige Monate später wurde die Industriefreiheit eingeführt und als 1810 die brasilianischen Häfen geöffnet wurden, war der erste Schritt zu einem selbständigen Wirtschaftsleben der damaligen portugiesischen Kronkolonie, eines völlig unerschlossenen, immensen Gebietes des lusitanischen Kö-nigreicbes, getan. Die Kolonialzeit ging zu Ende und die organisierte Einwanderung begann; 1812 entstanden die ersten landwirtschaftlichen Siedlungen.

Zu dieser Schicksalswende im Werdegang einer Nation schreibt Karl Fouquet: „Der Charakter der Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien wandelte sich von Grund auf seit der Übersiedlung des Königs, Dom Joäo VI., nach Rio (1808) und durch das Auftreten der Erzherzogin Leopoldina. Als Tochter Franz I. war sie die Urenkelin Maria Theresias und Schwägerin Napoleons I.; als Gattin Dom Pedros I., Thronfolgerin und sodann erste Kaiserin des jungen Reiches. Der Beitrag zu diesem Wandel, zum Teü ihr persönliches Verdienst, wurde ermöglicht durch ihren hohen Stand und durch ihr Erscheinen in der Zeit, als das frühere Nebenland seine staatliche Selbständigkeit errang. Er wirkte sich dahin aus, daß die Deutschen, die bisher als Binzeine auftraten, infolge der 1808 einsetzenden Reformen und nach der Ankunft Leopoldinens in der tropischen Residenz zu Tausenden erschienen, erst als Kaufleute und Handwerker in den Hafenstädten und dann als Soldaten und ländliche Siedler, in einer wechselnd starken, aber nie mehr unterbrochenen Bewegung. Die Ankunft des Brautgefolges der jungen Fürstin, aus dem einige Gelehrte und Künstler bleibenden Ruhm erwerben sollten, im Jahr 1817 und die Gründung der ersten deutschen Kolonien, Leopoltiina

Leopoldina von Brasilien und Säo Jorge dos Ilheus, in Bahia (Nordbrasilien), 1818, machen den Übergang deutlich wahrnehmbar. Zur gleichen Zeit begannen mit dem Handel auch Wissenschaft, Technik und Kunst, bis dahin gröblich vernachlässigt oder gar bewußt gehemmt, überraschend aufzublühen.“ (3)

Als Erzherzogin Leopoldine (1797 bis 1826) in Wien geboren wurde,stand Österreich auf einem Höhepunkt seines geistigen Schaffens und seiner politischen Macht; es war Hort und Mittler europäischer Kultur und Zivilisation; seine Interessen umfaßten Europa, reichten im Südosten bis Konstantinopel, im Südwesten bis Lissabon und stießen von dort aus in die Neue Welt vor. Nach den Gegebenheiten innerhalb dieser Interessenssphäre und der ja'hrhundertalten Habsburgtradition: „Laß andere Kriege führen, Du, glückliches Österreich heirate“, war Leopoldine zur Gemahlin des portugiesischen Thronfolgers ausersehen und dazu bestimmt, das Prinzip der europäischen Monarchie auf weit vorgeschobenen Posten, im fernen Sonnenland Brasilien, zu vertreten. Anfangs war damit eine Festigung der portugiesischen Monarchie beabsichtigt; in der Folge sollte jedoch Österreich nicht nur auf Portugal, sondern auch auf das werdende Brasüien entscheidenden Einfluß nehmen.

Nach 84 Tagen anstrengender Seefahrt traf Dona Leopoldina, am 5. November 1817, in Rio de Janeiro ein und erlebte dort den ersten, unmittelbaren Eindruck eines Kontinents voll bezaubernder Naturschönheit, der damals völlig neu, fremd, primitiv, ungeahnt, für die Außenwelt kaum geboren war. Mit Mut, Takt und Geschick erfüllte die österreichische Kaisertochter ihre Mission auf so weit vorgeschobenem, schwierigem Posten und wurde dabei mit Herz und Hirn Brasilianerin. Sie liebte ihre neue Heimat, hatte Sinn für das, was not tat, und stand ihrem Gemahl, dem sie sieben Kinder schenkte, in kritischer, schicksalsschwerer Zeit tatkräftig zur Seite. Als 1821 die portugiesische Königsfamilie nach Lissabon zurückkehrte, verblieb Dom Pedro als Prinzregent in Rio de Janeiro. Sein diesbezüglicher Entschluß stand unter dem Einfluß des Kreises um Jose Bonifäcio de Andrada e Silva, dem führenden Staatsmann und Patriarchen der Unabhängigkeit, in Verbindung mit Dona Leopoldina, die den Ausspruch getan hat: „Hier ist unser Platz.“ Diese Bestrebungen führten schließlich zu der von Dom Pedro am 7. September 1822 proklamierten Unabhängigkeit Brasiliens; als freie Nation trat es somit vor die Vökergemeinschaft und hißte seine Landesfahne, mit den Farben grün (für Braganqa) und gelb (für Habsburg) in bedeutungsvoller Verbindung lusitandschen und österreichischen Geistes, als das Hoheitszeichen eines aufstrebenden Volkes.

Jahre später, im Rückblick auf jene Epoche, schrieb Vasconcelos Drummond, Freund und Vertrauer von Jose Bonifäcio, darüber in seinen Memoiren: „Ich war Augenzeuge jener Ereignisse und kann bestätigen, Dofia Leopoldina hat innerhalb und außerhalb des Landes maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Unabhängigkeit genommen. Dafür schuldet Brasilien ihrem Andenken immerwährenden Dank.“ Dieser Dank sollte noch in damals sehr ferner Zukunft zum Ausdruck kommen: 1972, anläßlich der 150-Jahr-Feier der brasilianischen Unabhängigkeit, wurde in den Gärten des kaiserlichen Museums, in Petro-polis, Dofia Leopoldinas Büste enthüllt. Dieses Gebiet des bei Rio gegen die Küste abfallenden Orgelgebirges, dort, wo der „Finger Gottes“ in seiner bizarren Schönheit gegen den Himmel zeigt, wurde einst von Tiroler Kolonisten für die Sommerresidenz des jungen Herrschers, Dom Pedro IL, Dorla Leopoldinas Sohn, urbar gemacht.

Tragisch waren anfänglich die 1820 begonnenen Schweizer Sied-iungsversuche um Nova Friburgo, in den Bergen nordöstlich von Rio de Janeiro. Von den 2000 dafür angeworbenen Schweizern starben über 500 während der Reise und in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft; weitere 645 Kolonisten zerstreuten sich bald, und der damals bereits in Rio de Janeiro bestehende schweizerische Hilfsverein mußte eingreifen. Das vom Volksmund geprägte und für das Kolonisfenlos bezeichnende Sprichwort: Der ersten Generation der Tod, der zweiten die Not, der dritten das Brot, hat sich dort und damals in all seiner Härte bestätigt. Heute ist die Stadt Nova Friburgo ein Mittelpunkt der Textilindustrie und des Fremdenverkehrs.

Um die Jahrhundertmitte konnte Dr. Hermann Blumenau, der bekannteste unter den ausländischen KoIonisatoren, seine kühnen, leidenschaftlich vertretenen Pläne mit der Gründung einer Kolonie in Südbrasilien verwirklichen. Die heutige Stadt Blumenau ist ein blühendes Kultur-, Industrie- und Handelszentrum, zwischen der Atlantikküste und einer Hochebene, dessen einstiger Urwaldboden in hundertjähriger, härtester Arbeit in reiches Kulturland verwandelt wurde.

Um 1870 begann die große italienische Einwanderung; 1888 wurde die Sklaverei aufgehoben; 1889 stürzte darüber das Kaisertum und Brasilien wurde Republik. Damit waren völlig veränderte Bedingungen für den ferneren wirtschaftlichen und sozialen Aufbau des Landes sowie für die Immigration als solche gegeben.

Seit den Tagen Dona Leopoldinas leben Ausländer in allen großen Städten des Landes und wirkt dort eine Elite, deren geistige Tradition sich in steter Erneuerung fortpflanzt und die, gemeinsam mit den Massen eingewanderter Landsleute und Handwerker, ihren Anteil am Gesamtwerk hat. So gründete die deutsche Kolonie in Rio de Janeiro bereits 1821 ihren Klub „Germania“. Ohne die Leistungen anderer Kolonien zu schmälern, von denen jede einzelne ihre Geschichte, ihre ihr eigene Struktur hat,-darf die Stadt Säo Paulo, Sammelpunkt der stärksten Gruppe Menschen deutscher Sprache in Brasilien, als ein Schwerpunkt im brasilianisch-deutschen Lebensbereich betrachtet werden. Der Zuzug dorthin, vorerst aus Europa, dann aus dem Nahen und Fernen Osten, später aus allen Teilen Brasiliens, vollzog sich in unterschiedlichen Wellen, in der Kadenz der historischen Ereignisse von 1918, 1933, 1945, um schließlich im Raum von Groß-Säo-Paulo an dem phänomenalen Wachstum der Stadt mitzubaüen, sich in ihre 10-Millio-nen-Bevölkerung einzugliedern. Heute arbeiten dort Industrien zahlreicher Tochterfirmen deutschsprachiger Werke, mit dem Volkswagenwerk an der Spitze, deren Wirtschaftspotenz weiten Gebieten um den Stadtrand ein völlig neues Gepräge, einen völlig neuen sozialen Ausdruck verliehen hat.

Mit dem Gründungsdatum der „Deutschen Kolonie Säo Leopoldo“ feiert heuer Brasilden die mehr als 150 Jahre seines gigantischen Kolonisationswerkes, des mächtigen Stromes der Einwanderung fast sämtlicher Völker der Erde. Gleichzeitig gedenken wir heuer des 150. Jahrestages einer der großartigsten Kulturschöpfungen, der Neunten Symphonie von Beethoven, in Wien am 7. Mai 1824 uraufgeführt, deren Motiv, mit Schillers unsterblichen Worten: „Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt“, von der UNO als Hymne der Vökervereinigung gewählt wurde. Und so berührt sich unvergängliches Geistesgut mit ewigen Menschheitsidealen im Streben um eine bessere und menschlichere Zukunft.

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