Egon Schiele: Stehendes nacktes Mädchen mit organefarbenen Strümpfen, 1914 - © Foto: unsplash/Alejandra Quiroz

Philosophicum Lech: Zwischen Sexus und Eros

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Die Liebe im Zeitalter des Sex als Thema beim Philosophicum Lech - eine kleine Kulturgeschichte von Eros und Sexus.

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Die Liebe im Zeitalter des Sex als Thema beim Philosophicum Lech - eine kleine Kulturgeschichte von Eros und Sexus.

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Philosophie heißt wörtlich übersetzt "Liebe zur Weisheit". Naheliegend, dass sich die "Lover der Wahrheit", wie der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann sich und seine Berufskollegen bezeichnet, beim diesjährigen Philosophicum Lech Gedanken über den Eros machten. Welches Schicksal erlitt "der listige Gott" - so der Titel der von Liessmann geleiteten Tagung - im Laufe der abendländischen Geschichte und wie steht es mit ihm in der heutigen Zeit? Eine Zeit, in welcher "der verbleibende Rest-Eros [...] zum Sportler und Zahlenfetischisten geworden [ist], das Bett eine Arena für Hochleistungen; mehr schneller, stärker, besser", wie die Schweizer Philosophin Ursula Pia Jauch beklagt: "Cybersex statt Seelentausch, Pornoflut statt Liebesflüstern".

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Alles Nachdenken über den Eros beginnt mit Platons "Symposion", verfasst vor rund 2.400 Jahren und euphemistisch mit "Gastmahl" übersetzt, in dem sich Athener Intellektuelle im Rahmen eines ausschweifenden Trinkgelages über die Liebe austauschen. Darin lässt Platon den Aristophanes ein poetisches Gleichnis zeichnen: Die Menschen waren einst kugelförmig, doch Zeus ließ sie wegen ihres Übermuts halbieren. Seither irren die einzelnen Kugelhälften durch die Welt, eine jede ihr Gegenstück suchend. Eros ist demnach die Begierde und Jagd nach Ganzheit. Seine eigene Sicht der Dinge legt Platon dem Sokrates in den Mund: Eros ist das Streben nach dem Schönen, sein höchstes Ziel die Erkenntnis der Idee des Schönen. (Eros selbst ist daher nicht schön, er ist ein unansehnlicher, aber listiger Gott, der Sohn von Poros, dem "Wegfinder" und Penia, der Armut.)

"Das Abendmahl hat das Symposion überlagert", schreibt der deutsche Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz die Geschichte des Eros weiter. Die Erotik wich der Agape, der christlichen Nächstenliebe, in der der andere "Mandatar des unbekannten Gottes" (Karl Barth) ist. Während der antike Eros die Perspektive des Liebenden, des Liebhabers widerspiegelte, repräsentierte die paulinische Agape die Sicht jener Unglücklichen, die nicht geliebt werden. Schon Friedrich Nietzsche sah den christlichen Gott als Liebesangebot für die Zukurzgekommenen, "eine Kompensation für die grausame Ungerechtigkeit des Eros", wie der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski meint.

Über ein Jahrtausend regierte Agape, bevor auch sie wieder abgelöst wurde. Obwohl der Begriff wiederkehrte, blieb der antike Eros nur eine Erinnerung. Der neue Eros kam Hand in Hand mit seinem Vetter, dem Sexus, die beide bald unterschiedliche Wege gehen sollten, nicht ohne einander immer wieder zu begegnen.

Während der antike Eros auf die Idee des Schönen und damit auf die nackte Wahrheit abzielte, geht es dem neuzeitlichen Eros mehr um das Verhüllte und das Spiel der Phantasie. Die spielerische Andeutung, das Offenhalten für Möglichkeiten, die schwebende Unsicherheit, das Abstandhalten und die Zurücknahme, "die geheimnisvollen, anrüchigen und verbotenen Dimensionen des Begehrens" (Konrad Paul Liessmann) sind seine Charaktereigenschaften. Giacomo Casanova, der große Verführer, wurde zum erotischen Inbegriff des 18. Jahrhunderts, in dem das galante Spiel zwischen Mann und Frau ideengeschichtlich seine Vollkommenheit erlangte. Die schwärmerischen Romantiker des 19. Jahrhunderts schließlich liebten die Liebe selbst.

Doch dann kam der Absturz. Das kalte, theorielastige zwanzigste Jahrhundert verbannte Eros in das so genannte Triviale. Der Ausdruck zutiefst menschlicher Empfindungen wie Dein ist mein ganzes Herz / Wo du nicht bist, kann ich nicht sein / So, wie die Blume welkt / wenn sie nicht küsst der Sonnenschein (Franz Lehár) oder Als ich dich fand, ging eine Sonne auf / und der Himmel war so nah / Und deine Augen versprachen mir so viel / was ich noch nie, niemals sah (Christian Anders) wurde plötzlich ins Reich des Sentimentalen und des Kitsches verwiesen. Sehnsüchte und Leidenschaften sind nicht mehr salonfähig, Schmachten, Leiden und Lieben werden ebenso lächerlich gemacht wie die Presley-Inkarnation in der beliebten Audi-Werbung mit dem "Wackel-Elvis" - ein Stück Populärkultur, das in einer Minute die ganze derzeitige Misere des Eros vor Augen führt.

Knisternde Spannung

Der Eros, der von der knisternden Spannung zwischen den Geschlechtern lebt, hat es schwer in einer Zeit, wo der Unterschied zwischen Mann und Frau wegdiskutiert wird. Die "neoscholastischen" (Ursula Pia Jauch) so genannten Gender Studies erklären das Geschlecht zu einem sozialen Konstrukt, das angeblich allein von der Sozialisierung abhängt. Eine Auffassung, die völlig an den naturwissenschaftlichen Tatsachen vorbeigeht: "Männer und Frauen leben in völlig getrennten emotionalen und kognitiven Welten", weiß der Neurobiologe Gustav Jirikowski. Zum Beispiel erfolgt die sexuelle Stimulation des Mannes via optische und akustische Reize, während Frauen auf Geruch und Berührung ansprechen.

Nun sind wir also beim Sex angelangt. Heute steht Sexus im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, während Eros ins Schmuddeleck verbannt wurde. Wer glaubt, dass der Imperativ der schnellen, unmittelbaren und kostengünstigen Bedürfnisbefriedigung erst in der Zeit von Peep-Shows und Pornoindustrie gilt, irrt. Bernard Mandeville erklärte in seiner 1724 erschienenen "Bescheidenen Streitschrift für öffentliche Freudenhäuser" den Sex zu einer Ware, die auf einem von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung abhängigen Markt zu handeln sei. Prostitution und Sexualwarenhandel würden einmal so selbstverständlich sein, "wie das Vermieten von Pferden in einem Mietstalle", prophezeite der englische Schriftsteller.

Für Immanuel Kant erschöpfte sich die Beziehung zwischen Mann und Frau im "wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge", außerdem entwickelte der große Königsberger Philosoph ein folgenreiches Verständnis von Sexualität, wonach man sich selbst und den anderen beim Geschlechtsakt zur Sache mache: "Die Neigung, die man zum Weibe hat, geht nicht auf sie als einen Menschen, sondern weil sie ein Weib ist, demnach ist einem Manne die Menschheit am Weibe gleichgültig und nur das Geschlecht Gegenstand seiner Neigung" (Nur die Ehe, so Kant weiter, mache dieses unmenschliche Verhältnis erträglich.) Sigmund Freuds Begriff des "Sexualobjekts" entspricht ganz der Kantschen Vorstellung.

Lustfeindlichkeit

Dass laut Kant und Freud beim Sex die Frau zum Objekt wird, erklärt die vielgescholtene Lustfeindlichkeit vieler Feministinnen der ersten Stunde. Lieber gar keinen Sex, als sich zum Objekt degradieren zu lassen! Die Frauenbewegung betrachtete die Beziehung zwischen Mann und Frau ausschließlich als repressiv und inhärent gewalttätig. Dass sie es in vielen Fällen war und leider auch noch ist, veranlasste die Frauenrechtlerinnen zu einer fatalen Generalisierung. Die Berliner Autorin Mariam Lau spricht von einer "Theoretisierung des Sex unter den Vorzeichen von Macht und Gewalt". "Das Begehren des Mannes ist die neue Erbsünde", erklärt Norbert Bolz, der sich selbst als Opfer des Feminismus sieht: "Mann sieht ein Exemplar des anderen Geschlechts und weiß nicht mehr, wie man sich fühlen soll." In der Tat ist es schwierig, sich auch als reflektierter Mann in einer Welt zurechtzufinden, wo Frauen mitunter das Angebot, ihnen in den Mantel zu helfen, mit Beschimpfungen quittieren, oder wo ein falscher Blick als sexuelle Belästigung gedeutet werden kann (vor allem in den USA, wo die political correctness die zwischenmenschliche Annäherung zu einem quasi juristischen Akt gemacht hat).

Das neben dem Feminismus zweite kulturgeschichtliche Phänomen, das dem Sexus heute das Leben schwer macht, ist paradoxerweise die sexuelle Befreiung. In bestimmten Gegenden des Burgenlandes lautet der Name für das weibliche Geschlechtsorgan noch heute "Schande", während das männliche "Stolz" genannt wird - allein dieses Begriffspaar zeugt von all den Neurosen, biographischen Katastrophen und der Doppelmoral, denen die Enttabuisierung der Sexualität in den sechziger Jahren ein verdientes Ende bereitete.

Doch die sexuelle Befreiung hat auch ihren Preis. Die Schattenseiten brachte zuletzt der französische Schriftsteller Michel Houellebecq aufsehenerregend aufs Tapet. In seinem epochalen Werk "Elementarteilchen" zeichnet er die Menschen als Player in einem freien Markt der Liebe und des Sex, deren Kapital ihre Attraktivität ist. Seine Figuren gehören zu jenen, die auf diesem Markt nicht wettbewerbsfähig sind: die Hässlichen, die Uncharmanten, die Spröden, die an einer Welt ohne Gemeinschaft zerbrechen, in der Egoismus zum Lebensinhalt geworden ist. In seinem jüngsten, noch nicht ins Deutsche übersetzten (Skandal-)Roman "Plateforme" kann er sogar dem Sex-Tourismus positive Seiten abgewinnen: als Zusammenkunft von verzweifelten Männern und Frauen, die in ihren jeweiligen Gesellschaften nichts wert sind.

Es wird weiter geflirtet, onaniert, kopuliert, penetriert, geschmachtet und geträumt.

Heute ist Sex omnipräsent, die Werbung setzt auf sex sells, in Talkshows wird jede nur erdenkliche Form von Sexualität öffentlich gemacht. Es gibt keine Geheimnisse mehr, in denen der Eros sein Spiel treiben könnte. Die suggerierten Idealvorstellungen sexueller Erfülltheit zerbrechen jedoch oft an der Realität: Post coitum omne animal triste. Eine Reaktion darauf ist der Boom von Cybersex - "alle Arten von sexuellen Handlungen, in die ein Computer einbezogen ist, wobei die Tastatur entweder mit beiden Händen oder auch nur mit einer Hand bedient wird", wie der österreichische Essayist Wolfgang Pauser definiert. Die durch den Feminismus verunsicherten Männer reagieren mit Verweigerung und Rückzug: Allein in den USA wurden im Vorjahr 700 Millionen Pornovideos in Videotheken ausgeliehen - bei rund 280 Millionen US-Bürgern, Frauen und Kinder inbegriffen, ergibt das einen stolzen Schnitt.

Grundsätzlich jedoch müsse man sich weder um Eros, noch um Sexus Sorgen machen, meint Rüdiger Safranski: "Es wird weiter geflirtet, onaniert, kopuliert, penetriert, geschmachtet und geträumt." Als einziger Teilnehmer am Lecher Eros-Symposion in Lech aber fasste er die Rückkehr zu Agape ins Auge: "Säkularisierung ist Selbstbefriedigung", interpretierte er die Loslösung des Individuums aus den Bindungen an Glauben und Kirche im Sinne der Tagung. Doch das Zurück ist zumindest dem Philosophen verwehrt: "Gewiss lebt es sich leichter mit einem liebenden Gott im Rücken. Die Schwierigkeit ist nur, man muss an ihn glauben."

Buch

Der Vater aller Dinge. Nachdenken über den Krieg

Tagungsband zum vorjährigen Philosophicum Lech
Hg. von Konrad Paul Liessmann
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001
248 Seiten, öS 256,-/ € 17,90

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