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Die Idee der Universität

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Wir leben in einer Zeit des Neubeginns. Nicht nur das Gebäude unseres jungen Staates, seine Wirtschaft und seine sozialen Einrichtungen müssen vom Grunde auf neu errichtet werden, vor allem muß das Herz des Staates erneuert werden; ich meine damit seine Schulen, die Grundschulen wie die höheren und hohen Schulen des Staates, die Universitäten. Dabei kann keineswegs so vorgegangen werden, daß man einen Notbehelf an den anderen fügt, daß man aus Notbehelfen ein Scheinleben zusammenflickt — damit würde ja doch rrar ein Chaos durch ein anderes ersetzt werden; oder daß man schließlich aus der Not eine Tugend macht und so der Unordnung Dauer verleiht. Der Neubeginn muß, soM auf ihm neues Leben gründen, vom Wesen her geschehen. Zuerst muß das gründliche Wissen um das Wesen der Universität vorhanden sein, dann erst kann an den äußeren Wiederaufbau der Universität geschritten werden. Bei der Besinnung auf das Wesen der Universität kann uns aber nichts sosehr von Nutzen sein, als das gründliche Studium der Universitätssdirif-ten des großen englischen Kardinals John Henry Newman. Vor rund hundert Jahren, als es galt, eine katholische Universität in Dublin aufzubauen, hat Kardinal Newman in wahrhaft erleuchteten Schriften ,und Ansprachen das Wesen der Universität für alle Zeiten .gültig dargelegt. Für alle Zeiten gültig! Denn das Wesen der Universität kann so wenig wie das Wesen des Menschen der Zeit, einer bestimmten Zeit, unterworfen sein. Neue Formen der Gesellschaft mögen das Bild der Erde verwandeln! Technik und Wirtschaft dazu beitragen, daß sich das Angesidit der Erde verändert. Neue Wissenschaften mögen entdeckt, neue Wissensgebiete erforscht werden, während alte Wissenschaften verfallen oder zu noch größeren Ehren gelangen. Ewig gleich bleibt aber das Wesen des menschlichen Geistes — und somit auch das Wesen der Universität.

Und damit haben wir die erste These des Newmanschen Universitätsgedankens: daß die Universität zu dienen hat dem menschlichen Geist (und nicht der Wirtschaft, und nicht der Gesellschaft), daß es ihr Amt ist, diesen Geist zu bilden, damit er fähig wird, das Ziel, das im menschlichen Geiste selber gründet, zu verwirklichen, nämlich Wissen jeglicher Art richtig zu ordnen und, wenn es erfordert, das Wissen dieses Wissens richtig anzuwenden. Aufgabe einer Universität ist es also, ein gültiges Gleichmaß herzustellen zwischen dem menschlichen Geist und dem Wissensstoff, und zwar so, daß der Geist nicht Schaden erleidet. Das Primäre wird also die Bildung des Geistes sein. Was versteht Newman unter Bildung? Versteht er darunter den Erwerb eines mehr oder minder grossen Wissensstoffes? Alles andere als das! Zwischen Bildung und Wissensstoff herrscht ein qualitativer Unterschied. Der Bildung eignet ein qualitatives Element, während Wissensstoff immer quantitativ verstanden wird. Auch Fähigkeiten und Kenntnisse sind nicht Bildung. Bildung ist aber auch nicht das Gegenteil: wissenslose, gewissenslose Schöngeisterei; eine „schöne Seele“ ist noch lange kein gebildeter Geist. Bildung ift vielmehr organisiertes, besser noch: organisches Wissen. Es setzt voraus jenes innere Weitwerden, das nicht in der passiven Aufnahme von Ideen und Begriffen besteht, die dem Geist bis dahin fremd geblieben sind, sondern vor allem darin, daß der Geist sich gleichzeitig selber an und unter den auf iha eindringenden Vorstellungen mit höchster Energie betätigt. Das Prinzip der Bildung ist ein formschaffendes Prinzip. So sagt Newman: „Erst dann- fühlen wir uns geistig wachsen und weiter werden, wenn wir nicht bloß lernen, sondern wenn wir das Neugelernte unmittelbar mit dem Vorhandenen in Beziehung setzen. Nicht das bloße Summieren von Einzelkenntnissen bringt dem Geist Erleuchtung und Klarheit, sondern die Bewegung, das Höher- und Vorwärtstragen jenes geistigen Schwerpunktes, der alles und jedes, das vorhandene und das neuerwor-'ene Wissen, die ganze ständig sich mehrende Masse unserer Erkenntnisse, mit zwingender Kraft auf sich hinordnet.“ — Damit ist freilich der Rahmen einer bloßen Schule gesprengt. Und Newman unterscheidet auch gründlich zwischen Schule (Stätte der Belehrung) und Universität (Stätte der Bildung). Das Wissen, das die Universität vermittelt, das durchformte Wissen ist ja auch nicht „ein rein äußerlicher oder zufälliger Vorteil, der heute unser und morgen eines anderen ist, der aus einem Buche gewonnen und rasch wieder vergessen werden kann ... es ist eine erworbene Einsicht, es ist eine geistige Gewöhnung, ein persönlicher Besitz, eine innere Begabung. Und das ist der Grund, warum es sowohl richtiger als auch gebräuchlicher ist, von einer Universität als von einer Stätte der Bildung und nicht der Belehrung zu reden, obwohl auf den ersten Blick .Belehrung' ak die angemessenere Bezeichnung erscheinen dürfte, weil es sich doch um Wissen handelt. .. Bildung dagegen ist das höhere Wort. Es schließt eine Einwirkung auf unsere geistige Natur und die Formung eines Charakters in sich; es ist der Ausdruck für etwas Persönliches und Dauerndes und wird gewöhnlich gebraucht in Verbindung mit Religion und Tugend.“

Nun könnte freilich gefragt werden — und diese Frage entspricht ganz der Einstellung unserer Zeit —: hat ein Wissen überhaupt einen Sinn, wenn es nur der Bildung dient? Ist nicht dieser Begriff der Bildung ganz und gar der Ausdruck für einen Persönlichkeitskult, der ja wiederum Kind des abgelaufenen individualistischen Zeitalters ist? Was ist schließlich der Nutzen des Wissens, selbst wenn es noch so geordnet ist? Darauf antwortet Newman: es gibt zwei Arten von Wissen; ein nützliches Wissen und ein freies Wissen. Das nützliche Wissen, das Wissen des technischen Menschen richtet sidi notwendig auf das Praktische, also auf das Besondere; das freie Wissen hingegen auf das Allgemeine. Ersteres dient verschiedenen Zwecken, letzteres trägt sein Ziel und seinen Lohn in sich. Daß aber das freie Wissen und der freie Wissenserwerb (die liberalen Studien) dem Rang und Wesen nach höher stehen, wird nur der begreifen, der von der Art und der Gesinnung des Aristoteles ist. Und mit Aristoteles, mit den Alten und dem Erbe der Alten hält es der große englische Humanist Newman. Und er ruft seinen Hörern — die ebenso wie wir Kinder einer praktischen Zeit, und mehr als wir Kinder eines praktischen Volkes waren — zu: „Denken Sie nicht, daß ich durch eine solche Anrufung der Alten die Welt um zwei Jahrtausende zurückwerfen und die Philosophie an die Beweisführung des Heidentums fesseln will. Solange die Welt besteht, werden des Aristoteles Lehren über diese Dinge zu Recht bestehen, denn er ist das Orakel der Natur und der Wahrheit. Solange wir als Menschen leben, können wir gar nicht umhin, bis zu einem weiten Ausmaß Aristo-teliker zu sein; denn der große Meister gibt uns nichts weniger als die Analyse der Gedanken, Empfindungen, Anschauungen und Meinungen der Menschheit. Er hat uns den Sinn unserer eigenen Worte und Ideen erschlossen, noch ehe wir geboren waren ... Was nun unser besonderes Beispiel betrifft, so ist das Wort ,frei' oder Jiberal' in seiner Anwendung auf Wissenschaft und Bildung der Ausdruck für eine Idee besonderer Art, die immer war und immer sein wird, solange die Natur des Menschen die gleiche bleibt. . .“

Fassen wir also kurz zusammen: das Wesen der Universität ist, Bildung zu bewirken; der Stoff dieser Bildung ist aber das freie, jedem Nutzen abgewandte Wissen. — Mit diesen beiden Feststellungen ist aber das Wesen der Universität nicht erschöpft. Es kommt noch ein drittesv Moment hinzu, das eine Universität erst, zur Universität macht. Ich möchte dieses Moment das „Prinzip der Persönlichkeit“ nennen. Newman hat dieses Prinzip in seinen feinen Essays „The Office and Work of Universities — Aufgabe und Wirken der Universitäten“ dargelegt. Auch in dieser Schrift betont er den Primat des freien Wissens vor jedem nützlichen Wissen. Er sagt uns aber zugleich, wie dieses freie Wissen, wie Bildung erworben wird. Prinzipiell kann ja Wissen auch aus Büchern gewonnen werden; selbst freies, zweckfreies Wissen ist in Büchern zu finden. Bildung jedoch wird nie und nimmer aus Büchern gewonnen. Bildung setzt nämlich die Person des Lehrenden voraus, setzt den persönlichen Umgang mit dem Lehrer voraus. Eine Universität ist ja nichts anderes als ein Ort, wo Professoren und Studenten aus allen Teilen der Welt — und aus allen geistigen Provinzen zusammenkommen zum Zweck der gegenseitigen Erziehung (mutuad education). Und dieses Prinzip der mutual education ist es, das eine Universität über die Wissensschule hinaus zur Bildungsschule erhebt. In der genannten Schrift sagt Newman: „Die allgemeinen Prinzipien irgendeines Wissensgebietes können auch aus Büchern daheim gelernt werden. Die Feinheiten aber, die Details, die Farbe, der Ton, das Leben, das auch in uns Wurzeln schlagen soH, kann man nur von Menschen erfahren, in denen dieses Leben bereits Wirklichkeit geworden ist“. Der Wert des Wissens wird also von Kardinal Newman nach seiner Lebendigkeit bemessen. Denn soll eine Wahrheit überzeugen und zum Werk werden, so muß sie lebensvoll sein. Newman sieht immer und überall in der Persönlichkeit das lebenserweckende und lebensspendende Prinzip. Auch auf der Universität kann es nicht anders sein. Zuerst kommt die Person, dann die Institution. So war es auch in der Geschichte der abendländischen Universität. Immer war das Angebot von Wissen das Wesentliche — die Nachfrage komme von selbst. Zuerst ist der Lehrer — Schüler finden sich überall. So war es in Griechenland, der ewigen Heimat der abendländisdien Universitäten; so war es überall im späteren Abendland, wenn nach Zeiten des Verfalles der Geist neu aufgebrochen ist. Immer war zuerst der Einfluß einer großen Persönlichkeit (Sokrates, Piaton, Aristoteles und wie die Heroen des Geistes sonst heißen mögen) — dann erst kamen die Institutionen und Institute. Und kein Herrscher und kein Staat vermochte bis zum heutigen Tag eine Universität aus dem Boden zu stampfen, wenn es am Angebot des Geistes fehlte. Die Nachfrage allein vermag kein geistiges Leben zu stiften. Freilich: das Leben ist sparsam mit dem Geist. Die menschliche Gesellschaft muß sich in Zeiten des Mangels mit Notbehelfen abfinden. An Stelle des Einflusses eines großen Lehrers muß in den stillen Zeiten die Institution, die eingelaufene Disziplin, die Routine des Lehrbetriebes treten. Einfluß und Disziplin, Aufbruch und ruhiges Fortschreiten, Geist und Gesetz, das sind nach Newman die Weisen, wie sich menschliches Leben in Raum und Zeit abwickelt. So war Orpheus vor Lykurg und Solon. Denn es ist das Wesen menschlicher Gesellschaft, daß siemit dem Dichter, dem schöpferischen Mensehen beginnt, um im Verlauf der Zeit mit dem Polizisten zu enden. Sind aber einmal Einfluß (influence) und Gesetz (law) als die beiden bewegenden Mädite, als die Pole des Daseins erkannt, dann wird es nicht schwerfallen, audi die Universität, beziehungsweise die Geschichte der Universität gemäß diesen beiden Prinzipien zu verstehen. Und damit schließt sidi der Ring des Universitätsgedankens Kardinal Newmans.

An uns ist es nun, zu erwägen, was wir von Newman in der gegenwärtigen Situation lernen wollen. Ob wir die Universität wieder zu dem machen wollen, was sie ihrer Idee, ihrem Wesen nach ist, also eine Einrichtung, deren Amt es ist: die Verstandeskräfte zu pflegen, den Geist der Hörer zum remunftmäßigen Denken und Urteilen in allen Dingen zu erziehen, Menschen heranzubilden, die für ihr ganzes Leben eine geistige Einstellung gewinnen, deren charak-teristisdien Merkmale Freiheit, Unparteilichkeit, Ruhe, Mäßigung und Weisheit sind — oder aber aus ihr eine Fachschule, Berufschule zu machen, die dem Staat vielleicht gute Beamte und ein Volk von Tech-niten liefert, ihm aber nie jene Schicht von wahrhaft Gebildeten schenken wird, die notwendig ist, um einen Staat, ein politisches Gemeinwesen lebensfähig zu erhalten. Und damit wäre letztlich auch der „Nutzen“ einer Universitätserziehung, eines „freien“ Wissenschaftsbetriebes angedeutet. Wird aber aus der künftigen Universität eine Fachschule, so soll man aufhören, diese mit dem Namen „Universität“ zu beehren. Denn, um noch einmal Newman zu zitieren: „Eine Universität ist, wie der Name lehrt, eine Alma m'ater, die jedes ihrer Kinder kennt, kein Findelhaus, keine Werkstatt und keine Tretmühle.“

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