Werbung
Werbung
Werbung

Bildung verpflichtet dazu, Scheuklappen abzulegen, Verantwortung zu übernehmen - und endlich heiße Eisen anzupacken.

Ich weiß, dass täglich 24 000 Menschen verhungern, aber ich tue nichts dagegen." Ist an diesem Satz etwas falsch? Oder etwas faul? Ist denn Wissen folgenlos? Kann man tatsächlich sagen, man wüsste um Folter und Krieg, Armut und Arbeitslosigkeit, Sklaverei und Ausbeutung, und gleichzeitig lebt man so, als ob es all diese Phänomene nicht gäbe?

Wir haben es gelernt, mit dem Wissensbegriff so umzugehen. Eine bestimmte Tatsache und das Wissen um diese Tatsache sind eine Sache und das Handeln auf Grund dieser Tatsache ist eine andere. Ich halte diesen Begriff von Wissen für irrig.Der Philosoph und Naturwissenschaftler Michael Polanyi ist unter anderem dadurch berühmt geworden, dass er von "persönlichem Wissen" gesprochen hat. Jeder hat seinen eigenen Stil, sich Informationen anzueignen und zu verarbeiten, jede hat ihre eigene Ordnung, in der sie das, was ihr vermittelt wird, einordnet und gewichtet. Damit eine Information zu "Wissen" wird, muss sie persönliches Wissen werden, muss sie eingebettet werden in meine Handlungszusammenhänge, in meine Lebensform.

Wenn ich etwas zu wissen behaupte, dann verpflichte ich mich auf bestimmte Handlungsweisen. Wenn ich einen Satz verstehe, ebenso. Ich kann auf den Satz "Deine Tochter ist von einem Betrunkenen überfahren worden" nicht mit einem schulterzuckenden "Und wenn schon", antworten, wenn ich den Satz verstanden habe. Etwas zu wissen heißt, mein Handeln danach auszurichten. Wissen ist kein Rucksack, den ich jederzeit ablegen kann. Wissen ist mit dem wissenden Menschen verschmolzen.

Durch Bildung geformt

Deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen Person und Wissen im Begriff der Bildung. Bildung ist ein Prozess und das Resultat dieses Prozesses. Beides ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Wo Wissen zur Bildung wird, könnte man sagen, trägt es zur Formung von Persönlichkeit und Kultur bei. Bildung ist Wissen, das in die Person integriert ist. Der Begriff der Bildung impliziert ja, dass wir es hier mit einer Prägung, einer Gestaltgebung, einer Konturierung zu tun haben. Wer einen Bildungsprozess durchläuft, wird geformt. Wissen wird zur Bildung, wenn ich es mir aneigne. In diesem Sinne können wir das berühmte Goethe-Wort verstehen: "Was Du ererbst von deinen Ahnen, erwirb es um es zu besitzen!" Bildung prägt. Das Ideal der humanistischen Bildung hat mit der Idee der freien Selbstentfaltung aller Geisteskräfte der Person in der Herausbildung eines persönlichen Stils der Weltbewältigung zu tun. Bildung schafft die Möglichkeit zur Orientierung, die Möglichkeit, mich in der Welt zurecht zu finden. Auch in diesem Sinne ist Bildung prägend, weil sie mit der Art und Weise zu tun hat, wie ich mich in der Welt zurechtfinde.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seiner Studie über "die feinen Unterschiede" darauf hingewiesen, dass sich Bildungsprozesse in Gewohnheiten niederschlagen, die jeweils standes-gemäß sind, also der sozialen Klasse entsprechen, der man angehört. Dann wird Bildung zu einem systematischen Prozess der Aneignung von kultivierten Vorurteilen, der Aneignung einer etablierten Sicht, die Dinge zu sehen, der Übernahme einer bestimmten Orientierung.

Hier sieht man Gefahren, die mit einem Bildungsweg verbunden sind. Das zitierte Goethe-Wort ist auch deswegen wichtig, weil hier ausgesagt wird, was in einem Bildungsprozess geschieht: hier wird etwas weitergegeben. Bildung hat nicht nur mit "Formung" zu tun, sondern auch mit: Nacheifern, Abbilden, Nachahmen. Wissen wird zu Bildung, wenn ich jemanden vor Augen habe, der die Einordnung dieses Wissens in sein Leben schon gemeistert hat. Das bedeutet eine Gefahr und das bedeutet eine Chance.

Die Gefahr besteht in der Übernahme von Vorurteilen, die Chance in der Fähigkeit zur Übernahme von Perspektiven. Das Eintreten in einen Bildungsprozess ist das Eintreten in einen Dialog mit anderen Generationen. Nicht umsonst hat das Modell von Meister und Lehrling jahrhundertelang die Bildungstradition geprägt. Bildung ist Gespräch mit einer Tradition. Auf dem Hintergrund einer Tradition kann ich Dinge einordnen; auf dem Hintergrund einer Tradition bekommen Dinge ihr Gewicht; im Lichte einer Geschichte kann ich die Ereignisse der Gegenwart einschätzen und ins Verhältnis setzen. Wenn ich nicht im Gespräch mit der Tradition bin, kann ich leicht das Augenmaß verlieren. Wer Florenz nicht kennt, mag die Errungenschaften des sozialen Wohnbaus über alles preisen. Bildung ist die Fähigkeit, Gegenwärtiges in einen Zusammenhang zu stellen. So bekommen Dinge und Ereignisse ihr Gewicht und ihre Bedeutung.

Im Gespräch mit der Tradition gewinne ich Abstand vom "Hier und Heute". Bildung ist die Fähigkeit, Distanz zu gewinnen vom unmittelbaren Lebenszusammenhang. Hegel hat an einer Stelle gesagt: "Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines anderen ansehen zu können." Bildung ist die Fähigkeit, über den Tellerrand der eigenen Perspektive zu blicken. Ein Bildungsprozess ist eine Einladung, Distanz zum eigenen Standpunkt zu gewinnen und die eigene Perspektive als eine unter vielen zu sehen. Bildung ist daher auch die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und angesichts größerer Kompetenz Vertrauen zu schenken.

Mit gutem Grund schämen

Bildung hat mit der Fähigkeit zu tun, sich in die Situation von anderen hineinzuversetzen. Im Rahmen seiner Eröffnungsrede des UN-Welternährungsgipfels in Rom wird Kofi Annan mit den Worten zitiert: "In dieser Welt des Überflusses liegt es in unserer Macht, den Hunger zu beenden. Das Versagen, dieses Ziel zu erreichen, sollte uns alle mit Scham erfüllen." Bildung ist die Fähigkeit, sich mit guten Gründen schämen zu können, sensibel zu bleiben für das Gewicht dessen, was wir wissen, die Trag- und Reichweite unseres Wissens einschätzen zu können.

Bildung ist damit ein Auftrag, eine Verpflichtung. Etwas zu wissen, schließt Verpflichtungen ein und die Erfüllung dieser Pflichten kann schmerzhaft sein. Nicht von ungefähr sagen wir: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". In der Geschichtswissenschaft wird manchmal zwischen heißer und kalter Geschichte unterschieden. Heiße Geschichte ist diejenige, über die eine emotionale Diskussion geführt wird, das Thema kann dann im Lauf der Zeit abkühlen und zu "kalter Geschichte" werden, über die sich niemand mehr aufregt.

Ein Bildungsweg, so könnte man sagen, ist die Einladung, sich mit heißen Eisen zu beschäftigen. Ein Bildungsprozess lässt Scheuklappen ablegen, schützende Schleier und Hüllen des Nichtwissens abwerfen. Bildung darf wehtun, Bildung macht verwundbar. Denn das Wissen darum, dass 24 000 Menschen täglich verhungern, zwingt mich, meinen Lebensstil zu überdenken, ist ständiger Stachel im Fleische meiner behaglichen Existenz. Dieses Wissen ist "heißes Wissen", Wissen, um das ich nicht herumkomme, wenn ich mich in unserer Welt zurecht finden möchte. Bildung in diesem Sinne ist "heißes Wissen", Wissen darüber, was ist; Bildung in diesem Sinne ist "gefährliche Erinnerung", Erinnerung daran, was sein könnte; Bildung in diesem Sinne ist schließlich "begründete Hoffnung", Hoffnung darauf, dass erfüllt wird, was sein sollte. In allen diesen Fällen haben wir es mit Verpflichtungen zu tun, die mein Leben anleiten.

Bildung als Verpflichtung und Orientierung eröffnet Lebensmöglichkeiten. Bildung schließt Türen auf. Deswegen ist Bildung ein Privileg - es ist ein Privileg, diese Türen öffnen zu dürfen. Es ist allerdings kein Privileg in dem Sinne, dass wir es hier mit exklusiven Gütern, die knapp wären, zu tun hätten. Im Gegenteil! Gadamer hat einmal geschrieben: Kultur ist das, was mehr wird dadurch, dass es geteilt wird! Die Güter, die in einem Bildungsprozess vergeben werden, werden durch Teilen nicht weniger und knapper. Bildungsgüter wachsen durch das Teilen, weil die Gemeinschaft blüht und gedeiht, wenn die Gaben ihrer Mitglieder erschlossen werden.

Bildung ist der Zugang zu Fähigkeiten. Der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen hat davon gesprochen, dass Armut vor allem dadurch bekämpft werden soll, dass der Zugang zu Fähigkeiten ("capabilities") eröffnet wird. Nicht der Zugang zu Gütern steht hier im Mittelpunkt, sondern der Zugang zu Fähigkeiten, wie sie in einem Bildungsweg erschlossen werden. Es kommt nicht von ungefähr, dass viele Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit Bildungsprojekte sind. Es ist unbezahlbar, Schlüssel zu Türen von Fähigkeiten zu haben. Diese Fähigkeiten sind nicht etwas, was von außen zu einem Menschen dazukommt, wie ein Hut, der jemandem aufgesetzt wird, sondern das wecken, was in einem Menschen liegt. "E-dukation" ist bekanntlich ein Herausführen, ein Wecken dessen, was schon im Menschen liegt. Die in einem Bildungsweg angeeigneten Fähigkeiten verschmelzen mit der Person und werden Teil der unverwechselbaren und einmaligen Persönlichkeit.

Darf ich mit einer Frage enden? Was folgt daraus, dass ich "Persönlichkeit" in diesem Sinn nicht kaufen kann?

Der Autor

ist Professor für Philosophie an der

Katholisch-Theologischen Fakultät

der Universität Salzburg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung