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Wenige Ereignisse des neunzehnten Jahrhunderts haben so tiefe Wirkungen ausgelöst wie die Konversion John Henry Newmans an einem stürmischen Oktobertag des Jahres 1845. Newman war vierundvierzig Jahre alt, und der Besuch des kleinen, demütigen Pas-sionistenpaters Dominic, der ihn in die katholische Kirche aufnahm, ist der Wendepunkt seines langen Lebens.

Eine Reihe von Werken, allen voraus die große Biographie Wilfrid W a r d s, hat sich mit der zweiten Hälfte seines Lebens befaßt. Weniger bekannt, oder zumindest falsch gesehen, war bisher die erste Hälfte seines Lebens und sein Familienhintergrund. Eine der zeitgenössischen Biographien hierüber stammte von Anne Mozley, der Schwester eines Schwagers Newmans. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt und fast blind, als sie ihr Buch begann. Newman überließ ihr aus seinem Besitz eine Anzahl von Dokumenten seines früheren Lebens, ohne sich jedoch viel darum zu kümmern, welchen Gebrauch sie davon machte. Das Ergebnis war bedauerlich. Die modernen Biographen hatten alle Hände voll damit zu tun, die falschen Eindrücke des Mozley-Buches zu berichtigen. Pater Henry T r i s t r a m vom Oratory in Birmingham, heute vielleicht die größte lebende Autorität der Newman-Forschung, schrieb: „Ich war entsetzt über ihre Auslassungen und Aenderungen.“ Sie hatte nicht nur wichtige Stellen in Newmans Briefen und jeglichen Hinweis auf seine Seelenkämpfe während seiner sizilianischen Krankheit, sondern auch alles, was irgendwie zugunsten Roms oder gegen die anglikanische Kirche zu sprechen schien, unterschlagen.

Maisie Ward, eine Tochter Wilfrid Wards, hat vor zwei Jahren viele dieser Lük-ken in ihrem Buch „Jung Mr. Newman“ ausgefüllt. Vor kurzem erschienen nun zwei weitere Newman-Biographien, die sich hauptsächlich oder gänzlich mit den Jahren vor 1845 befassen.

Die erste, wichtigere ist „N e w m a n : Sa Vie, S a S p i r i t u a 1 i t e“ des Pariser Oratorianers Louis Bouyer. (Les Editions du Cerf. 975 frs.). Pere Bouyer, dn ehemaliger Lutheranerpastor und Konvertit, Professor am Institut Catholique in Paris, ist bereits mit einigen theologischen Werken von Bedeutung an die Oeffentlichkeit getreten. Seine Newman-Biographie ist vor allem geeignet, den weitverbreiteten falschen Eindruck des auf Mozley basierten Werkes von B r e m o n d richtigzustellen.

„Keine Stimme“, schreibt er, „spricht wie die seine zu uns von jenseits dem Grabe, denn keine gibt es, die so das Hetz anspricht, wie es auch keine gibt, die so aus dem Herzen spricht. Cor ad cor loquitur — dies war sein Motto als Kardinal, dies ist das letzte Wort eines Lebens, in dem Wahrheit und Liebe nie geschieden waren.“ Aber es war auch das Motto des jungen Newman. Pere Bouyer gibt Newmans „Wendung“ im Alter von sechzehn Jahren jene Bedeutung, die Newman ihr selbst stets beimaß: als Rückkehr aus einer kurzen, rationalistischen Phase zu seinem innersten Bewußtsein der Gottesnähe, das Newman aus seiner frühesten Kindheit her besaß und das ihn sein Leben lang begleitete. Es lag dem Kampf zugrunde, den seine einsame Seele mit der Außenwelt, oder, wie er es bezeichnete, mit dem Geist des religiösen Liberalismus auszufechten hatte. Daher auch sein Ausspruch: „Lieber Heiligkeit als Frieden.“ Sein Leben war der beste Beweis, daß das Kreuz und nicht der Friede der innerste Kern des Christentums ist. Jedes seiner großen Projekte war durch menschliche Kleinlichkeit zerstört worden. Sein (noch anglikanischer) Versuch, einen frühchristlichen Katholizismus in Oxford einzuführen, der große Plan einer christlichen und humanistischen Universitätsgründung in Dublin, die Bibelübersetzung, seine Bemühungen zur Förderung der Laienbildung und des Laienapostolats, die

Gründung eines Heims zur Betreuung der katholischen Studenten in Oxford — alle diese Werke, die zumeist heute reiche Frucht getragen haben, wurden zu seiner Zeit vereitelt, so daß ihm sein ganzes Leben, dem so spät die Ehrung der Kardinalswürde zuteil wurde, als eine Kette von Mißerfolgen erscheinen mußte. Sein Gottvertrauen verließ ihn trotzdem nie. Als Anglikaner schon predigte er seiner Oxforder Gemeinde, daß ihr behäbiges Leben geradezu eine Aufforderung zu christlicher Integrität sei. Immer wieder erinnerte er sich selbst: „Laß mich nicht die Schwächen Deiner menschlichen Vertreter dazu verleiten, zu vergessen, daß Du es bist, der durch sie spricht und handelt.“

Pere Bouyers Biographie, die sich mehr mit dem Leidensweg von Newmans Seele als mit seinen Werken befaßt, wird vor allem den von Przywara, Haecker und anderen erhobenen Anspruch auf Newmans Heiligkeit stärken können. Monsignore H. Francis Davis, Rektor des Priesterseminars in Oscott und selbst ein großer Newman-Kenner, nahm das Buch zum Anlaß eines Aufrufes im Oktoberheft der Dominikanerzeitschrift Blackfriars, Newmans Seligsprechung in die Wege zu leiten. Msgr. Davis unterstellt seinen Aufruf natürlich einer endgültigen Entscheidung der Kirche; sein Artikel hat jedoch in England und anderswo starken Widerhall gefunden. Jedenfalls hat Pere Bouyers Buch dazu beigetragen, jenen häufig erhobenen Einwand gegen Newmans heiligmäßiges Leben, der seine fast krankhafte Feinfühligkeit betrifft, zu entkräften. Der Autor fragt mit Recht, seit wann denn Heiligkeit eine Frage des Temperaments sei, und antwortet selbst, daß Heiligkeit darin bestehe, was man mit dem Temperament unter dem Einfluß der Gnade und nicht unter dem natürlicher Anlagen anfange.

Das Problem des inneren Lebens Newmans wird in dem zweiten neuen Buch von S e a n O'Faolain nur gestreift; es ist aber deshalb nicht weniger aufschlußreich über den jungen Newman. „New m a n s W a y“ (Longmans 25 s) ist eigentlich der Familienweg der Newmans und ein höchst lesbares, wenn auch nicht gerade erbauliches Werk. O'Faolain versteht es mit seiner großen irischen Erzählerkraft, die Newman-Legende zu vermenschlichen ohne sie zu verfälschen. Sein Newman ist ein Zwischenstück zwischen einem Genie und jenem Stein des Anstoßes, als der er seiner eigenen Familie erschien.

Sowohl Newman wie Kardinal M a n n i n g entstammten der englischen evangelischen Tradition, die in ihrem Enthusiasmus am ehesten mit dem modernen Kommunismus zu vergleichen ist: diese Richtung nahm sich in der Form des Wesleyschen Methodismus der arbeitenden Bevölkerung der frühen industriellen Revolution an und verhütete dadurch wahrscheinlich eine blutige Wiederholung der Französischen Revolution auf englischem Boden. Diese Tradition war es, in der Lord Shaftesbury der Sklaverei ein Ende setzte und das fürchterliche Los der englischen Fabriksklaven besserte, und die dann später — unbeabsichtigt — das Neuerstehen des englischen Katholizismus veranlaßte. Außer dieser Tradition hatten die beiden großen Gegenspieler, Newman und Manning, den Bankrott ihrer Väter gemeinsam, dem O'Faolain mit besonderer Gründlichkeit nachgeht.

Wir wissen jetzt, daß Newman aus sehr armen Familienverhältnissen stammte, obwohl es nicht genau feststeht, wieviel Newman selbst hierüber wußte. Die Geschicke der Familie nach dem Bankrott des Vaters, der sein Leben als Gastwirt beendete, sind tragisch. Der Haushalt wurde versteigert, darunter auch Newmans Musiknoten, die ein halbes Jahrhundert später ein Bewunderer aufkaufte und ihm überreichte. Die Familie, die Newmans Schwester übertrieben als „kleine Landbesitzer“ beschrieb, mußte in eine armselige Wohnung in Convent Garden umziehen. Was für eine Familie! Der eine Bruder) Francis, trat der Sekte der Plymouth Brethren bei und begab sich auf eine tragisch-komische Mission nach Bagdad, um die Muselmänner zum Darbyismus zu bekehren. Dann wurde er Professor der klassischen Sprachen an der Londoner Universität und starb als Agnostiker. Eine weit größere Quelle ständiger Belästigung war der andere Bruder Newmans, Charles; ein Atheist, Sozialist, Verschwender, zeitweise Beamter der Bank von England, dem seine Familie und besonders John Henry fortwährend finanziell beistehen mußte und der sich schließlich als exzentrischer Einsiedler nach Tenby in Walisien zurückzog. Im Jahre 1882 machte sich zum Erstaunen seiner Mitbrüder im Oratory in Birmingham, die nichts von der Existenz dieses Sonderlings wußten, der ein-undachtzigjährige Kardinal auf, seinen Bruder zu besuchen. Nach einer lokalen Ueberliefe-rung soll dieser sich geweigert haben, ihn zu empfangen, jedenfalls wissen wir nicht, was bei diesem seltsamen Zusammentreffen vor sich ging.

Manning hatte seinen Bruder Charles zum Katholizismus bekehrt, Newman dagegen folgte kein einziges seiner Geschwister in die Kirche. Seine Schwester Jemima verbot ihren

Kindern sogar, ihn in Birmingham zu besuchen. Die weibliche Umgebung Newmans kann mit Ausnahme seiner Mutter nicht sehr anziehend gewesen sein. Die Schwestern Jemima und H a r r i e t lagen in ständiger Fehde um die Gunst ihrer männlichen Bewunderer. Dann gab es die junge, überschwengliche MariaRosinaGiiber'rie, genannt „die Primadonna der Oxfordbewegung“, die sich in den jungen anglikanischen Asketiker verliebte und seinetwegen wahrscheinlich die Hand seines Bruders Francis zurückwies. Vergeblich sucht man in Newmans Umgebung nach einer Caroline, der frühverstorbenen Frau Mannings, deren Bild den großen Kardinal bis an sein Totenbett begleitet hatte. Die Liebe zu seiner Frau war vielleicht Mannings tiefster menschlicher Zug, mit dem seine Biographen, die ihn als kalten Tyrannen darstellten, nichts anzufangen wußten. Newman sticht ganz anders von seiner lästigen und aufgeregten häuslichen Umgebung ab, und trotz aller Zartheit, mit der er seine Familie ständig behandelte, müssen ihm die Kontroversen der Kirchenväter ruhiger vorgekommen sein als seine häuslichen Auseinandersetzungen ... Vielleicht waren diese auch für seine spätere Zurückgezogenheit und seinen großen Mangel an Menschen Verständnis verantwortlich.

Eine besondere Schwierigkeit, die Geistcs-haltung Newmans zu verstehen, bietet sein ständiges Schwanken zwischen den ausdrückbaren Dingen, die im menschlichen Leben als das Gesetz und die Moral erscheinen, und jenen irrationalen, nicht definierbaren Dingen des Glaubens oder der Mystik. Die ersteren werden erkannt, die letzteren erlebt, und Newman, der in einer Zeit lebte, in der sowohl Vernunft wie Instinkt unter Angriff standen, schwankte zwischen beiden. Er erkannte die Notwendigkeit der Glaubensdefinition, anderseits wußte er, daß der Rationalist, wie Cassius, keine Musik zu hören vermag. Newman sah stark mit den Augen Butlers und Kants auf die Rationalismen seiner Zeit und fand, daß beide zu wünschen übrigließen. Um die letzte Wahrheit zu sehen, schien er zu sagen, müssen wir den Boden verlassen. Dieser Zug war schon früh in ihm. In einem Schulaufsatz „Ueber den Ruhm“ schreibt der Fünfzehnjährige, daß berühmte Männer nicht mehr Realität besäßen als Romanhelden. Die Menschheit feiert ihre Namen, nicht sie selbst. Die Namen gehören den Toten nicht mehr, denn die Verbindung zwischen Namen und deren Besitzern ist seit dem Tode aufgelöst.

Mr. O'Faolain fügt diesem Aufsatz, den Newman selbst in seinem späten Alter mit dem Vermerk „Von mir 1816/1817 geschrieben“ versehen und des Aufhebens wert befunden hatte, den folgenden erdichteten Dialog zwischen Newman und seinem Lehrer bei:

Lehrer: „Junger Newman, was in Himmels Namen wollen Sie mit diesem außerordentlichen Produkt sagen? Hören Sie mal Zu: Wenn ich den Namen Julius Cäsar nenne, führt Ihnen der nicht einen wirklichen Menschen vor Augen?“

Junge: „O nein, Herr Professor. Wenn das so wäre, würde ich Sie bitten, mir den Mann zu zeigen.“

Lehrer: „Natürlich kann ich das nicht. Julius Cäsar ist tot.“

Junge: „Das ist's, was ich meine. Alles, was von Julius Cäsar übrigbleibt, ist sein Name.“

Lehrer: „Aber da hört sich ja alles auf. Er kann doch für uns neu geschaffen werden, sein Aussehen, seine Gefühle, seine Ideen, seine Leistungen, sogar seine Gedanken in seinen eigenen Worten.“

Junge (traurig): „Schatten, Herr Professor. Bloße Schatten.“

Man vermeint aus dieser Szene das tiefsinnige Motto des späteren Kardinals herauszuhören: „Ex umbris et imaginibus in veri-tatem“ („Aus Schatten und Bildern zur Wahrheit“), das für das ganze Leben Newmans so charakteristisch war. Es gab für Newman nur ein Selbst, das Selbst der privaten Persönlichkeit, ein anonymes Geheimnis, das sogar uns selbst nur unzureichend bekannt ist. Gott allein kennt uns in Wirklichkeit und Wahrheit.

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