Wegweiser des modernen Christen

Das kleine Büchlein ist ein origineller und gut gelungener Versuch, ein Selbstbildnis des großen englischen Konvertiten und Geistesmannes zu schaffen durch geschickte Zusammenstellung von Texten aus seinen Tagebuchnotizen, Briefen und Schriften. Die Lektüre setzt einige Kenntnis der kirchlichen und politischen Verhältnisse Englands im 19. Jahrhundert voraus. Die Geisteiart, der Entwicklungsgang und die Wirksamkeit Newmans rechtfertigen den Titel, den der Herausgeber Willi Reich dem Büchlein gab. Newman war „das große Aergernis“ für die Ahglikaner, zuerst als lästiger Reformer, später als treuloser Renegat, und auch für die Katholiken, zuerst als radikaler, selbstsicherer Neophyt, dann als freimütiger Mahner und Warner, der mit Seherblick in der richtigen Beurteilung brennender Zeitfragen leinen Zeitgenossen um ein Menschenalter vorauseilte. Er lehnte in der Pädagogik den geistloien Drill ab, er arbeitete in der Paitoral auf dai verantwortungsbewußte Suchen der Seelen hin, er warnte vor der Gefahr dei politiichen Katholizismus für die Kirche Christi, er zeigte moderne Wege für die Begegnung von Kirche und Welt, er rief die gesunden Kräfte aller christlichen Konfessionen zu einer gemeinsamen Abwehr aller christus- und gottfeindlichen Zeitströmungen auf und bereitete so die Una-Sancta-Bewegung unserer Tage vor. .

Als Untertitel dienen die Worte, die Newman selbst für seinen Grabstein bestimmt hat: „Aus Schatten und Bildern zur Wahrheit.“ Damit ist das persönliche Ringen Newmans um Wahrheit und Klarheit angedeutet. Es wird für viele Leser das Anziehendste am Büchlein sein, weil sie nicht selten ihre eigenen Schwierigkelten darin wiederfinden werden und weil hinter gewissen Erlebniiien Newmans gleichsam überpersönliche und überzeitliche Gesetze aufscheinen, die im Heilsplan Gottes immer neu wirksam sind, Sie werden sich auch angetrieben fühlen, den Weg zu gehen, der allein zu Gott führt: ehrliches Suchen der Wahrheit, gehorsamsbereites' Horchen auf die Stimme des Gewissens und vertrauensvolles Gebet um Gottes Führung. Langsam führt Gottes Barmherzigkeit Newman aus seinen Vorurteilen heraus: „Als Knabe und auch als Erwachsener hatte ich den Papst für den Antichrist gehalten“ (S. 26). Ein Wort des heiligen Augustinus erschließt ihm ein allgemein gültiges Prinzip der Wahrheit: „Das wohlüberlegte Urteil, dem die ganze Kirche schließlich zustimmt und auf dem sie ruhig beharrt, ist eine unfehlbare Vorschrift und ein endgültiger Richtspruch gegen solche Gruppen, die sieh auflehnen und absondern“ (S, 35). Ehrlich bekennt er, was nach dem Zeugnis der Geschichte bei allen romfernen Christen zur letzten Entscheidung führt: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, zwischen denen man zu wählen hat, den Weg nach Rom und den Weg in den Atheismus“ (S. 57). Wie neu scheint der Weg, den Newman zur Erlangung der Glaubensgewißheit geht: „Der, der uns erschaffen hat, wollte es so, daß wir in der Mathematik Gewißheit durch strenge Beweise tatsächlich erhalten, daß wir aber in religiösen Fragen Gewißheit durch Anhäufung von Wahrscheinlichkeiten erlangen. Insofern Er es gewollt hat, daß wir so vorgehen sollen, hilft Er uns auch in unserem Vorgehen und schenkt uns eine Gewißheit, die höher reicht als die logische Kraft unserer Schlußfolgerungen“ (S. 60). Schmerzlich leidet der Priester Newman, wie die Besten seines Standes, unter der demütigenden Spannung zwischen Sollen und Können. In den letzten 25 Jahren lastet schwer auf seiner weichen, gemütstiefen Seele di immer stärker hervortretende Unmöglichkeit, die Gegensätzlichkeit des Geistes und Charakters, die ihn von Kardinal Manning trennt, zu überbrücken, Doch über alle Prüfungen und Enttäuschungen hilft ihm schließlich der Scharfblick und das Vertrauen Leoi XIII, hinweg, so daß er nach seiner Ernennung zum Kardinal ichreiben konnte: „Ich habe immer getrachtet, meine Sache den Händen Gottes zu über lassen und geduldig zu sein — und Er hat mich nicht vergeiien“ (S. 117),