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Die Rechte des Gewissens

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Kaum jemand lotete tiefer das Spannungsfeld von kirchlichem Lehramt und Gewissen aus als John Henry Newman, der uns als Mensch und Theologe heu- te noch viel zu sagen hat.

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Kaum jemand lotete tiefer das Spannungsfeld von kirchlichem Lehramt und Gewissen aus als John Henry Newman, der uns als Mensch und Theologe heu- te noch viel zu sagen hat.

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John Henry Newman, dessen Todestag sich am 11. August zum 100. Mal jährt, war einer der füh- renden Geister der Kirche im 19. Jahrhundert; man hat ihn nicht zu unrecht einen „Wegbereiter des II. Vatikanischen Konzils" genannt. Dabei war er lange Zeit eine höchst umstrittene Gestalt. Der 1801 als Sohn eines Bankiers in London Geborene war im Anglikanismus aufgewachsen; seine Mutter hatte ihn in der „englischen Bibelreli- gion" erzogen. 1816 kam er nach Oxford, wo er seine Studien am Trinity College aufnahm; später setzte er sie am Oriel College fort. Oxford wurde ihm zur geistigen Heimat.

Schon der Fünfzehnjährige ge- riet durch die Lektüre von David Humes Essays und einige französi- sche Verse (vermutlich von Voltai- re) in eine schwere Glaubenskrise. Doch gerade daraus erwuchs seine tiefe und unerschütterliche Über- zeugung von der absoluten Wirk- lichkeit Gottes, die für sein ganzes weiteres Leben entscheidend blieb. „Myself and my Creator" („Ich und mein Schöpfer") - das war der Grundgedanke seiner „Bekeh- rung". Aus dieser Beziehung lebte er von nun an und gewann seine Kraft aus ihr.

Newman, der sich auch für Philo- sophie und Mathematik interessier- te, entschied sich letztlich doch für die Theologie. Schon 1828 wurde er Pfarrer von St. Mary's, der Univer- sitätskirche von Oxford. Das war in der Zeit eines stets mächtiger wer- denden Liberalismus keine leichte Aufgabe. Bald erwachte in ihm die Überzeugung, er habe einen Auf- trag zu erfüllen. In dieser Überzeu- gung stand er nicht allein. Es fand sich ein Kreis gleichgesinnter Freunde, deren ausgemachtes Ziel die Erneuerung der anglikanischen Kirche war.

So entstand 1833 die „Oxford- Bewegung", von der starke religiö- se Impulse ausgingen. In Wort und Schrift vertraten die Freunde ihre Auffassungen. Immer mehr Men- schen sammelten sich um die Kan- zel von St. Mary's; die Auflage der Kampfzeitschrift der Bewegung „Tracts for the Times" stieg stän- dig. Die theologische Basis bilde- ten die Schriften der Kirchenväter: Clemens und Origenes, Athanasius und Augustinus. Newman war der führende Theologe der Bewegung und bald auch der ganzen anglika- nischen Kirche.

Die zwei Fragen, die ihn am tief- sten bewegten, waren: Wie läßt sich der Glaube vor der Vernunft recht- fertigen? Und: Wie lassen sich die Treue zur Überlieferung und zum eigenen Gewissen vereinbaren? Um sie kreisten seine Predigten, die bald im Druck erschienen und in ganz England zu lebhaften Diskussio- nen führten. Denn damit hatte er die stärksten Herausforderungen seiner Zeit für den Glauben hell- sichtig erfaßt und angesprochen. Newman war zeit seines Lebens allen extremen Lösungen abgeneigt. Er lehnte einen irrationalistischen Fideismus ebenso ab wie jene Form des Rationalismus, die meinte, die Vernunft könne sich als Richterin über den Glauben aufspielen. Doch seinen eigenständigen Lösungsvor- schlag des Problems konnte er erst später vorlegen.

Zunächst drängte sich die zweite Frage in den Vordergrund. New- man, der selbst ein außerordentlich sensibel reagierendes Gewissen hatte, zweifelte nie daran, daß das Gewissen die oberste Norm des menschlichen Handelns ist. Gott selbst hat uns ein Gewissen gege- ben, wie er uns die Vernunft und das Gedächtnis gegeben hat. Das Gewissen ist ein „Echo der Stimme Gottes, zurückgeworfen von unse- rer Natur". Die Freiheit des Gewis- sens ist ein fundamentales Recht des Menschen. Doch gerade dieser Satz kann im Sinn einer Willkür- freiheit mißverstanden werden. So kommt es, daß „viele darunter das Recht verstehen, zu denken, zu sprechen, zu schreiben und zu handeln, wie es ihrem Urteil und ihrer Laune paßt, ohne dabei ir- gendwie an Gott zu denken." Der christliche Glaube sagt dem Men- schen, daß das Gewissen über sich hinausweist auf Gott und seine Offenbarung.

Für Newman entstand daraus die drängende Frage nach der richti- gen Interpretation der Offenbarung: Welche unter den christlichen Kir- chen ist der Tradition am meisten treu geblieben? Zunächst meinte er, es sei die anglikanische Kirche, die einen Mittelweg zwischen den Ex- tremen des Katholizismus und Protestantismus eingeschlagen habe. Doch das Studium der Kir- chenväter ließ Zweifel an seiner eigenen Theorie aufkommen. Er legte sein Pfarramt nieder und zog sich in den kleinen Ort Littlemore zurück, um dort im Studium und Gebet um eine Lösung zu ringen. Hier entstand eines seiner wichtig- sten Werke über die „Entwicklung der christlichen Lehre"; am Ende gelangte er zur Überzeugung, die katholische Kirche habe die Tradi- tion am besten gewahrt und ließ sich am 9. Oktober 1845 in sie auf- nehmen.

In ganz England erhob sich ein Sturm der Entrüstung; viele seiner Weggenossen und Freunde waren betroffen und zogen sich von ihm zurück. Das änderte sich erst 1864 nach dem Erscheinen seiner „Apo- logia pro vita sua", worin er die Gründe für seine Konversion offen darlegte, wodurch er sowohl seine Freunde als auch die englische Öffentlichkeit überzeugte. Newman war freilich nach seiner Konver- sion auch in der katholischen Kir- che in die Isolation geraten. Die englischen Katholiken waren eine kleine Minderheit, die sich im Get- to befand und durch Engstirnigkeit auszeichnete. Paradoxerweise wur- de der Gegner des Liberalismus liberaler Tendenzen beschuldigt und mehrfach in Rom angezeigt.

Die Auseinandersetzungen um die päpstliche Unfehlbarkeit während des Ersten Vatikanums und in den Jahren danach bewegten ihn tief, zumal der englische Kardinal Man- ning ein Verfechter einer möglichst weitgehenden Dogmatisierung der Unfehlbarkeit war, die sich aller- dings auf dem Konzil nicht durch- setzen konnte. Newman, der nicht an der Unfehlbarkeit der Kirche zweifelte, vertrat hingegen das „Mi- nimalismusprinzip": Unfehlbare Entscheidungen der Päpste „sind wirklich sehr selten".

Mit öffentlichen Äußerungen hielt er sich zurück und trat erst 1875 mit dem „Brief an den Herzog von Norfolk" hervor, weil sich die Empörung in England immer noch nicht gelegt hatte. Ausführlich ging er auf das Verhältnis von Gewissen und Lehramt ein. Er vertrat die Auffassung, das Gewissen könne „nicht in eine direkte Kollision mit der Unfehlbarkeit der Kirche oder des Papstes kommen. Diese er- streckt sich nämlich nur auf allge- meine Sätze und auf die Verurtei- lung bestimmter einzelner und gegebener Irrtümer". Das Gewis- sen dagegen sei das konkrete Ur- teil, das dem einzelnen sage, was er jetzt tun und lassen solle. „Der Papst besitzt in den Dingen, in denen das Gewissen die höchste Autorität ist, keine Unfehlbarkeit."

Und weiter: „Spräche der Papst gegen das Gewissen im wahren Sinn des Wortes, dann würde er Selbst- mord begehen... Auf das Gewissen und seine Heiligkeit gründet sich sowohl seine Autorität in der Theo- rie wie auch seine tatsächliche Macht." Aufgabe des Papstes ist es, das Sittengesetz zu verkünden und das Gewissen zu schützen. So ist auch der bekannte Satz Newmans zu verstehen: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Reli- gion auszubringen (was freilich nicht ganz das Richtige zu sein scheint), dann würde ich trinken - freilich auf den Papst, jedoch zu- erst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst."

Newman hat damit nichts Neues gelehrt; er beruft sich auf zahlrei- che Autoren. Auch die höchste kirchliche Autorität hat sich nicht an seinen Äußerungen gestoßen: Drei Jahre später hat ihn Leo XIII. zum Kardinal kreiert.

In diesen späten Jahren konnte Newman auch seine „Grammar of Assent" vollenden und publizie- ren, seinen letzten Versuch der Rechtfertigung des Glaubens vor der Vernunft (1870). Trotz man- cher Schwächen im einzelnen und einer schwierigen Terminologie weist sein Ansatz weit in die Zu- kunft. Newman zeigt auf, daß das Ideal exakter Erkenntnis, das in der Wissenschaft verbindlich ist, auf den Bereich des Handelns nicht angewandt werden kann. Das gilt auch für den Glauben, der untrennbar mit dem sittlichen Handeln verknüpft ist und (in der Terminologie Kants) in den Be- reich der praktischen Vernunft gehört.

„Statthalter" des Gottesglaubens im Menschen ist das Gewissen, das als „sense of duty", als kategori- scher Imperativ, Unbedingtheits- charakter hat. Vor der theoretischen Vernunft haben die Gründe für diesen Glauben den Charakter ei- ner sehr hohen Wahrscheinlichkeit (Newman spricht von einer „Häu- fung der Wahrscheinlichkeiten"), doch genügen sie, daß die prakti- sche Vernunft ihm eine unbedingte Zustimmung gibt und das Handeln danach richtet. Dieser Ansatz Newmans ist in seiner eigenen Zeit auf weitgehendes Unverständnis gestoßen. Heute, nach der „prag- matischen Wende" in der Philoso- phie, vor allem nach dem späten Wittgenstein, sollte er neu über- dacht werden.

Newman hat uns auch heute noch viel zu sagen: als Mensch, der un- beirrt seinem Gewissen gefolgt ist, und als Theologe, der sich den Herausforderungen seiner Zeit gestellt hat, die auch noch die uns- rigen sind.

Der Autor ist Professor für Christliche Philo- sophie an der Päpstlichen Hochschule Linz.

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