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Newman im heutigen England

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Auf dem europäischen Kontinent und in Amerika ist Newman seit der tieferen Erregung der religiösen Problematik unter den gebildeten Katholiken, die nach dem ersten Weltkrieg einsetzte, eine nachhaltige Kraft der religiösen Besinnung geworden. Sie wirkte sich nicht nur in machtvollen Bewegungen, man denke zum Beispiel an den katholischen Akademikerverband in Deutschland, aus, sondern gewann auch durch ein von ihm inspiriertes Schrifttum, ganz abgesehen von den Übersetzungen seiner Bücher, einen ständig wachsenden Einfluß. Dieser Einstrom Newmanschen Geistes in die Auseinandersetzung mit der religiösen Problematik und den katholischen Aufgaben der Zeit hat sich auf dem europäischen Kontinent jedenfalls seit dem zweiten Weltkrieg nicht vermindert, in Amerika hat er ganz außerordentlich zugenommen. Unter den amerikanischen Katholiken besteht heute eine Verehrung und ein Interesse für Newman, die bis zu machtvollen Bestrebungen für seine Heiligsprechung gehen.

In England selbst kann heute von einer ähnlich bestimmenden Wirkung Newmans nicht gesprochen werden. Das bedeutet natürlich nicht, daß Newman nicht auch in England seine Geltung besäße. Er hält dort seinen Platz als einer der großen Geister und religiösen Denker der Nation, er gilt allgemein als einer der ersten Meister des englischen Stils-, sein „Traum des Gerontius“ wird in der Vertonung von Elgar, Englands größtem Komponisten, jährlich mehrmals, einmal mindestens auch im Rundfunk, aufgeführt, es wird gelegentlich über ihn in verschiedenen Zusammenhängen gesprochen, er wird zitiert, in die Erörterung von Erziehungsfragen namentlich wirkt seine „Idee einer Universität“ hinein, besonders aber erfolgt unter dem Einfluß seiner Persönlichkeit, seines eigenen Ringens und seiner Entscheidung noch immer jährlich eine namhafte Anzahl von Übertritten vom Anglikanismus zur katholischen Kirche. In der katholischen Bewegung des Landes und in dem mit der Zeitproblematik befaßten katholischen Schrifttum treten dagegen Name und Ideen des großen religiösen Denkers verhältnismäßig weniger hervor. Wohl gibt es eine Newman Society, die, ähnlich wie die Leogesellschaft in Österreich oder die Görresgesellschaft in Deutschland, sidi bestimmten Zeitaufgaben des Katholizismus widmet. Jedoch sie befaßt sich unmittelbar mit Newman so wenig wie die Lcogesellsdiaft oder Görresgesell-sdiaft mit der Stellung der ihnen den Namen gebenden Persönlichkeiten in der Welt katholischer Geistigkeit. Es ist vor allem bczeidinend, daß seit der Jahrhundertwende in England keine Gesamtausgabe der Werke Newmans herauskam, so sehr ein kritisdi zureichende und mit den erforderlichen Anmerkungen versehene Neuauflage längst geboten wäre. Da die Bestände der alten, vielfadi schon vor der Jahrhundertwende gedruckten Auflagen nicht abverkauft werden konnten, war an eine Neuausgabe nicht zu denken, und nur die völlige Zerstörung dieser Bestände durch die Bombenangriffe auf London haben die Frage einer solchen Neuausgabe wieder hervortreten lassen, ohne daß diese jedoch tatsächlich sdion gesichert erschiene. Dagegen arbeitet ein amerikanischer Verlag an einer neuen Ausgabe, die schon zu erscheinen begonnen hat.

Fragt man sich nach den Gründen des mangelnden stärkeren Interesses an Newman in seinem eigenen Lande, so ist von vornherein anzunehmen, daß diese Gründe auch ein Licht auf die gegenwärtige religiöse Situation Englands werfen dürften. Tatsächlich ist diese Situation heute eine völlig andere als zur Zeit Newmans und deshalb findet die Gegenwart nicht so leidit den Zugang zu ihm. Newman sah wie niemand sonst die Gefahr des in seiner Zeit einsetzenden religiösen Liberalismus und Naturalismus und zugleich die Verwundbarkeit des Anglikanismus, dem er angehörte, durch diese sich ankündigenden geistigen Strömungen. Er glaubte die Rettung in einer religiösen und dogmatischen Neuorientierung, Festigung und Vertiefung des Anglikanismus zu finden. Gerade damit sah er sich aber mehr und mehr vor den inneren Schwächen und der dogmatischen Ungesichertheit des Bekenntnisses, dem er angehörte, sowie vor der Notwendigkeit des Rückgriffes auf die letzten Grundlagen christlicher Gläubigkeit. So fand er sich dann schließlid: vor dem Felsen, auf den Christus seine Kirche gegründet hat, also vor dem Papsttum und vor Rom. Dieser Art von Problematik ist aber heute der Boden fast dadurch völlig entzogen, daß die dogmatische Substanz des Anglikanismus eben infolge der obgenannten geistigen Mächte soviel an Vitalität eingebüßt hat, daß in den breiteren Schichten der Drang zu tiefergehender religiöser Aueinander-setzung wegfällt, das Religiöse sidi weitgehend ins Sittlidie auflöst und damit hauptsächlich der Wille zu einem prakti-sdien Christentum übrig bleibt, der sich in (auszeichnender!) caritativer Haltung und in gutem Bürgertum äußert. Dazu kommt, daß beim Engländer überhaupt das Interesse an der bloßen Problematik gegenüber dem an der Persönlichkeit zurücktritt. Daher findet sich im Katholizismus verhältnismäßig wenig von einer Projektion der Newmanschen Problematik auf die Zeitaufgaben. So hat sidi audi das Sdirifttum zur Jahrhundertfeier seines Übertrittes zur Kirche (1945) vorwiegend mit verschiedenen historischen Aspekten seiner Persönlidikeit und seines Werkes befaßt.

Bleiben jene letzten Fragen und Antworten bei Newman, die dem Heilsanliegen der Einzelseele gelten und die in seinem Schrifttum in immer neuen Wendungen hervortreten, eine überzeitliche Geltung haben und Newman für immer unter die größten religiösen Denker aller Jahrhunderte einreihen. Dieser tiefsten Unterströmung in seinem Denken habhaft zu werden, setzt eine Vertrautheit mit seinen Werken voraus, die nur durch mühsame Durdiarbeitung zu erlangen ist. Dafür ist aber sein Englisch dem heutigen Durchschnittsengländer zu ungewohnt. Wie schon erwähnt, wird Newman zwar allgemein, auch von den Protestanten, als einer der größten englischen Stilisten gepriesen, jeder mit dem heutigen Geschmack Vertraute sagt einem aber: Der heutige Engländer liebt kurze Sätze und die kurzen angelsächsischen Worte. Newman schreibt jedodi in seinen katholisdien Schriften sehr lange, sdiön gebaute Perioden und benützt viele lange, aus dem Lateinischen abgeleitete Worte. Das ist, wie ein englischer Newman-Kenner dem Schreiber dieser Zeilen erklärte, einer der entscheidenden Gründe, warum er heute in England nicht eigentlich gelesen wird. Diese Schwierigkeit bleibt auch für die Sammelbände bestehen, in denen das Überzeitliche aus seinen Werken von Zeit zu Zeit neu herausgebracht wird, (übrigens hat sich Newman selbst schon in seiner späteren Zeit gelegentlich beklagt, daß seine Bücher nicht gelesen werden, und daraus den Sdiluß gezogen, er solle das

Bücherschreiben besser aufgeben.) Schließlich muß aber nodi ein Grund angeführt werden, der zum Teil erklärt, warum Newman im heutigen England nidit das Interesse findet, das man vermuten sollte: er ist der sozialen Frage seiner Zeit ferngestanden. Dies um so auffälliger, als gerade damals in der „Hochblüte“ des individua-listisdien Kapitalismus das arbeitende Volk Englands unter himmelsdireienden Verhältnissen lebte (Friedrich Engels schrieb 1844 seine furchtbare Anklage: Die Lage der arbeitenden Klassen in England!) und außerdem die religiöse Not unter der Arbeiterschaft unbesdireibliche Ausmaße angenommen hatte. Bei einem großzügigen Zugriff wäre dem Katholizismus eine ganz große Chance offengestanden. In diesem religiösen Vakuum sprangen die Sekten auf, die die religiöse Lage Englands heute kennzeichnen. Newmans Sdirifttum berührt nicht wesentlidi die soziale und religiöse Not der großen Massen zu seiner Zeit: sicher auch ein Grund dafür, daß eine mehr und mehr mit dem sozialen Problem be-sdiäftigte Zeit den Zugang zu ihm nicht so leicht zu finden vermag. Wir haben eben gesagt, daß der Katholizismus in England vor hundert Jahren eine ganz große Chance versäumte. Hat er diese eine versäumt, so können doch in der Zukunft andere erstehen, die, wenn sie im Geiste Newmans erfaßt werden, seine Zeit bedeuten können. Noch steht die weitausgreifende Synthese von modern-wissenschaftlidiem und traditionell-katholischem Weltbild aus. Newman war einer der ersten, der die Gefahren, die Möglichkeiten und die Forderungen der rasch sidi entwickelnden Naturwissenschaften für den Katholizismus gesehen hat. In seiner „Idee einer Universität“ hat er vorausschauend und mutig die für eine Synthese auf beiden Seiten entscheidenden Voraussetzungen entwickelt. Sein Land ist im besonderen ein Land naturalistischen Wissenschaftsglaubens. Sobald dieser in seine unausbleibliche geistige Krise tritt, kann es wohl sein, daß die Zeit Newmans kommt. Sie mag aber weiter kommen, weil auch im Bereiche der katholischen Theologie eine stärkere dynamische Entfaltung denkbar ist. Es war eines der ihn zutiefst bewegenden Anliegen, zu werben für die Wiederbelebung einer befruchtenden Aussprache auf Grund einer Vielfalt von theologischen Sdiulen, wie sie im Mittelalter bestanden. Wieder: sein Land ist im besonderen das Land der toleranten Begegnung der Geister in allen Bereichen des menschlichen Geistes; so könnte es wohl in der angegebenen Richtung vorangehen. Dann wäre die Zeit Newmans gekommen. Noch eine dritte, die größte Chance, muß erwähnt werden: wenn das Sektenwesen sich innerlich er-sdiöpft, dann mögen wohl viele den Weg gehen, den Newman gegangen ist, und diesen Weg gehen mit Hilfe der geistigen Wegtafeln, die er als Zeugnis eines religiösen Ringens und seiner religiösen Entscheidung hinterlassen hat.

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