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Selbstmord der Demokratie?

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ZERSTÖRUNG UND SELBSTZERSTÖRUNG DER DEMOKRATIE. Europa 1918 bis 19S8. Von Karl J. N e w m a n. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin. 531 Seiten. S 266.

Mußte es so kommen? Erlagen die europäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit dem Ansturm totalitärer Kräfte nur wegen der Unbedenklichkeit der von diesen angewendeten Mittel oder war es die Mechanik der Demokratie selbst, die gemäß den von Piaton aufgestellten Gesetzen zu ihrer eigenen Vernichtung führte? In mehr als einer Spezialuntersuchung wurde schon Material für eine Antwort auf diese Frage, die nicht nur von historischem, sondern von akutem politischem Interesse ist, zusammengetragen. Karl J. Newman, Professor an der Universität Köln, ist bemüht, basierend auf diesen Vorarbeiten, in der vorliegenden umfassenden sozialwissenschaftlichen und historischen Untersuchung, sich der schicksalhaften Frage selbst zu stellen.

Sind nämlich Piatons Maxime „eherne Gesetze“, dann wären auch über den Ausgang der Wiederholung des Experiments, allerdings unter grundverschiedenen Voraussetzungen, Skepsis angebracht. Der Autor aber weiß zu beruhigen, wenn er den Determinismus des griechischen Staatsphilosophen nur für „Anfangs-“ oder „Entwieklungsdemokra-tien“ anerkennt. Mit diesem Begriff hat Karl F. Newman einen neuen Aspekt für die Betrachtung der Demokratie Mitteleuropas in der Zwischenkriegszeit eröffnet. Er weiß diesen auch durch Analogien zu dem Schicksal der „Anfangsdemokratien“ in den Entwicklungsländern der Gegenwart zu erhärten. Eine gründliche Kenntnis der Probleme jener Länder — Newman war von den Vätern Pakistans zur Erarbeitung der Verfassung dieses „Nachfolgestaates“ konsultiert worden — kommt ihm dabei zu Nutz.

Österreich hingegen kommt zugute, daß Professor Newman ein gebürtiger Altösterreicher aus dem böhmischen Raum ist. Das vorliegende Werk konzentriert sich deshalb nicht allein auf das Schicksal der Republik von Weimar. Mehr als einmal wird der Scheinwerfer der Betrachtung auf die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, auf die Länder Zwischeneuropas gelenkt. Wenn Newman gerade in der Parzellierung dieses Raumes und in der Übernahme der Problematik des alten Kaiserstaates durch seine Nachfolger insbesondere der CSSR („Die Grundmotive der Tragödie Mitteleuropas blieben unverändert, nur die Schauspieler tauschten ihre Rollen“, Seite 183) sieht, so ist ihm herzhaft zuzustimmen. Ebenso seiner Feststellung, daß nur von einer starken und demokratischen Donauföderation im Geiste von Kremsier eine Konsolidierung dieses Raumes gegen die unter den Fahnen des Pangermanismus und Panslawismus heraufziehenden totalitären Kräfte zu erhoffen gewesen wäre. Eine Feststellung, doppelt wertvoll, weil sie von einem Autor kommt, der sich persönlich an mehr als einer Stelle als ein Mann der demokratischen Linken ausweist.

Der „Lasterkatalog“, den Professor Newman für die europäischen Demokratien in Mitteleuropa (1918 bis 1938) aufstellt, hat viele Punkte. Sie können hier nicht vollzählig wiedergegeben werden. Immer wieder und mit starkem Nachdruck macht der Verfasser jedoch das Verhältniswahlrecht für die Parzellierung des politischen Lebens und die daraus erwachsenen Bündnisse und Koalitionen mit der jungen Demokratie nicht gerade freundlich gesinnten Kräften verantwortlich. Sein Plädoyer für das Mehrheitswahlrecht nach englischem Vorbild ist von hohem Interesse für die Gegenwart.

Eingehend befaßt sich Newman auch mit der immer wiederkehrenden Frage, ob Demokratien so demokratisch sein müssen, daß sie ihren Feinden auch die Freiheit zur Zerstörung einräumen. Die Antwort ist ein entschiedenes Nein. Der „übertriebenen Vertrauensseligkeit“ und der „mangelnden politischen Energie“ der Demokratie (Seite 351) gilt sein scharfer Tadel.

Auf der Linken sollte man nicht überlesen, welche negative Rolle der Verfasser der radikalen Programmatik mancher sozialistischer Parteien zuschreibt (Seite 423) die viele Menschen der Mittelschichte — in ihrer Verbreitung und Konsolidierung sieht Newman mit Recht das Fundament jeder Demokratie — kopfscheu machen mußte. Manchen Konservativen tut die Erinnerung an die gefährlichen Trugschlüsse gut, durch die lange Zeit alles Soziale als „rot“ verteufelt wurde und Hitler und Mussolini als zwar rauhe, aber doch nützliche Gesellen in der Auseinandersetzung mit dem zum „Erbfeind“ erkorenen Sozialismus angesehen wurden.

Newman bietet Material genug, nicht nur zur Technik der totalitären Machtergreifung in die Vergangenheit, sondern auch zur Gewissenserforschung und Standortüberprüfung der mitteleuropäischen Demokratie der Gegenwart. Eine nüchterne Analytik, die Fülle des ausgewerteten Materials, sowie die ausgewogene Art der Darstellung durch den Verfasser, machen das vorliegende Buch zu einem Standardwerk. An diesem wird künftig niemand vorübergehen können, dem es um das Schicksal der Demokratie in Mitteleuropa in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ernst ist.

Trotzdem sei dem Rezensenten eine kleine Zusammenfassung der „Errata“ und einiger nach seiner Meinung Fehlinterpretationen des Verfassers gestattet:

Die Übernahme gern gemaohter Fehler anderer Autoren wie jenes, daß die Schusse von Schattendorf der Heimwehr angelastet werden (S. 299), während sie von Angehörigen der Frontkämpferorganisation abgegeben wurden, und die Vorstellung Dollfuß' als ..ehemaligen Kaiser-jägeroffizier“ (Seite 299) statt richtig als Kaiserschützenoffizier wären leicht zu vermeiden gewesen. Dollfuß wurde nicht am 20. (Seite 410) sondern am 25. Juli 1934 ermordet. Major Feys Rolle an diesem Tag bleibt auch nach den jüngsten Forschungen der Zeitgeschichte umstritten. Dennoch ihn als „NS-Spre-cher“ (Seite 303) zu apostrophieren, ist eine historisch kaum zulässige Überinterpretation. Auch besitzt Professor Newman sehr wohl die Gabe der Unterscheidung, um den Terminus „KZ Wollersdorf“ (S. 422) nicht für das Anhaltelager Wollersdorf, in dem kein einziger Mensch zu Tode gebracht wurde, zu übernehmen. Der „Mann, der Hitler die Ideen gab“ schreibt sich nicht Lenz (Seite 325), sondern Lanz von Liebenfels. Eine österreichische „Bundeswehr“ gab es weder in der Ersten Republik (Seite 301) noch gibt es sie in der Gegenwart. Der Verfasser bedauert mit Recht, daß die demokratischen Bauernbewegungen in Mitteleuropa nicht jene breite Mittelschichte ausformen konnten, der die Demokratie so dringend bedurft hätte. Wir vermissen in den von ihm aufgezählten Gruppen aber den Österreichischen Bauernbund, der sich auch nach 1933 der faschistischen Komponente des Ständestaates hartnäckig widersetzte (Bauernaufmarsch in Wien 1933!) und dessen führende Persönlichkeiten (Reither) buchstäblich bis in die letzten Minuten bemüht waren, den Ausbruch der Bruderkämpfe im Februar 1934 zu verhindern.

Professor Newman zeigt echte Sympathien für Österreich und eine starke Einfühlungskraft in die Probleme unseres Landes in der Vergangenheit. Für die Gegenwart fehlt ihm wohl eine stärkere persönliche Bindung, sonst hätte er kaum vom „Friedensvertrag“ (Seite 495) statt „Staatsvertrag“ — ein kleines Wort, aber großer politischer Bedeutungsunterschied — geschrieben, und die daraus für Österreich sich ergebende Möglichkeit, sich als neutrales Land nach den geographischen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten zu entwickeln, die Worte neutral und entwickeln unter Anführungszeichen gesetzt (Seite 194). Das zu tun, blieb bisher anderen Autoren vorbehalten. Welchen? Eben jenen, die in Gedanken nahestehen, über die niemand anderer als Professor Newman in seinem Buch mit Recht hart ins Gericht geht.

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