Der Krampf mit der Kreativität

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Lehrer können Kreativität nicht erzeugen. Sie können sie nur ermöglichen oder verhindern. Schulische Wunder sollte sich daher niemand erhoffen.

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Lehrer können Kreativität nicht erzeugen. Sie können sie nur ermöglichen oder verhindern. Schulische Wunder sollte sich daher niemand erhoffen.

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Es gibt Wörter, die von ihren begeisterten Anhängern buchstäblich zu Tode benützt werden, bis sie nur noch als inhaltsleere Gespenster durch den Sprachgebrauch geistern.

Gegenwärtig widerfährt dieses Geschick dem Begriff Kreativität: Alles und jeder soll kreativ sein, kreativ sollen Probleme gelöst, soll die Marktwirtschaft angekurbelt werden. Und erst die Schulen! Von einer neuen Entdeckung und Förderung der Kreativität scheinen sich manche, wie kürzlich selbst bei einer Tagung von EU-Unterrichtsministern zu hören war, wahre Schulwunder zu erhoffen.

Es liegt nahe, sich Hartmut von Hentigs Verdacht anzuschließen, daß sich hinter dem Ruf nach Kreativitätsförderung ein massiver Fall politischer Instrumentalisierung verbirgt. Die Gesellschaft muß, so Hentig, auf "den faktischen Wandel der Verhältnisse mit veränderten Vorstellungen, Maßnahmen, Prioritäten reagieren". Da die alten Mittel jedoch keine neuen Lösungen bringen, hofft man also auf das ganz Neue, das noch nicht Gedachte, das erst gedacht werden muß.

Hinter dem Ruf nach schulischer Kreativitätsförderung steht also nicht das Interesse an einer ganzheitlichen Menschenbildung, die auch der Entfaltung der synthetischen, in der rechten Gehirnhälfte beheimateten Tätigkeiten zu ihrem Recht verhelfen soll. Hier geht es um die Ausbildung von Rekruten, die den Ansprüchen von Politik und Wirtschaft der Zukunft genügen sollen. Die dies fordern, sitzen allerdings einem Trugschluß auf. Sie glauben, Menschen, deren Kreativität auf welche Art auch immer erfolgreich "gefördert" wurde, würden gedanklich brav innerhalb der Grenzen des Systems verharren und damit zu dessen Konsolidierung beitragen. Kreatives Denken ist jedoch vor allem "befreites Denken - nicht gehemmt von Furcht oder Routine", und es ist fraglich, ob diejenigen, welche es derzeit so eifrig fordern, mit den Denkergebnissen zufrieden wären.

Die hohen Erwartungen an die Kreativität sind zweifelsohne überzogen, die Lösung der anstehenden Probleme wird eher durch mühsames Nachdenken als durch Geistesblitze erfolgen.

Dennoch sollte uns der sorglose Umgang mit dem Begriff der Kreativität nicht davon abhalten, wieder einmal darüber nachzudenken, wie die Schule tatsächlich der Entfaltung der rechten Gehirnhälfte und damit auch dem kreativen Moment mehr Raum geben könnte. Schließlich ist die Schule verpflichtet, den ganzen Menschen mit all seinen Begabungen zu bilden, und nicht nur seine linke Gehirnhälfte. Viele Aufgaben, die ihr von der Gesellschaft zugeschanzt werden, kann die Schule nicht erfüllen.

Diese eine aber sollte sie wirklich ernst nehmen und nicht allein den sogenannten "kreativen" Fächern, also Musik, Zeichnen und Werken zuweisen. Das assoziierende Verbinden von Gegenständen, das intuitive Erfassen von Bildern, das Erraten, dies sind allesamt Tätigkeiten der rechten Gehirnhälfte und zweifelsfrei nicht allein den Künsten zugeordnet. Ebenso steht es mit der Kreativität. Ist denn das Erschaffen einer neuen Realität ein Privileg der Künste und ihrer Musen? Wohl kaum, tragen doch die Erkenntnislinien menschlichen Geistes von Aristoteles bis Newton, Galilei und Einstein den schöpferischen, göttlichen Funken genauso in sich wie die Symphonien Beethovens, die Gemälde Tizians, die Sonette Shakespeares.

Schule kann, dies sei vorweg noch festgehalten, Kreativität nicht erzeugen, sie kann sie nur ermöglichen oder verhindern. Rezepte gibt es nicht. Aber es liegt eine interessante amerikanische Studie vor, die Aufschluß gibt, welche Aspekte im Ermöglichungsprogramm berücksichtigt werden sollten. Der amerikanische Psychologieprofessor Mihaly Csikszentmihalyi hat versucht, dem Phänomen kreativer Menschen auf die Spur zu kommen, genauer gesagt, Kreativität im Sinne eines lebenslangen Entwicklungs- und Entfaltungsprozesses zu erforschen.

91 außergewöhnliche Menschen, die zu einer wichtigen Domäne einen entscheidenden, kreativen Beitrag geleistet hatten, über 60 Jahre alt und immer noch aktiv waren, wurden von Csikszentmihalyi und seinen Studenten befragt. Die Analyse der Interviews förderte einige interessante Einsichten zutage: Welche Eigenschaften zeichnen kreative Menschen aus, wie verläuft der kreative Prozeß, welche äußeren Bedingungen fördern oder behindern die Entstehung von schöpferischen Ideen. Zwischen den Aussagen der Projektteilnehmer ergaben sich in mehreren Punkten auffallende Übereinstimmungen. Diese sollen nun Hinweise geben, wie eine Schule aussehen müßte, die der Kreativität der Schülerinnen und Schüler Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

* Kreative Menschen neigen stark dazu, über die Grenzen des eigenen Bereiches hinauszublicken, um sich von den Erkenntnissen anderer Gebiete inspirieren zu lassen.

Auf die Schule bezogen bedeutet dies, daß erstens eine zu frühe Spezialisierung bedenklich ist, ebenso wie die Tatsache, daß die - schon lange angekündigte, in Wirklichkeit aber kaum betriebene - fächerübergreifende Zusammenarbeit endlich realisiert werden sollte.

* Der von Csikszentmihalyis ausgewählte Kreis zeichnet sich auch durch eine gute Ausbildung, ein enormes fachliches Wissen aus. Wissen fliegt jedoch niemandem zu, es muß in jahrelanger harter Arbeit mit Hilfe von Ausdauer und Beharrlichkeit erworben werden.

Das heißt, die Schule muß von den Schülern fordern dürfen, daß diese die Schule als ihren Beruf, Freizeitaktivitäten hingegen als Hobbies betrachten und nicht umgekehrt. Denn erstens kann nur so ein grundlegendes Basiswissen erfolgreich vermittelt werden. Und zweitens ist die Beharrlichkeit, bei einer Sache zu bleiben, ohne sich von dem jederzeit auf Knopfdruck abrufbaren Nervenkitzel des Fernsehprogrammes verlocken zu lassen, eine Frage der Übung.

Fast zwanghafte Ausdauer und Beharrlichkeit sind wiederum unter jenen Eigenschaften, welche zu den wichtigsten Eigenschaften der von Csikszentmihalyi befragten kreativen Menschen zählen.

* Zugleich nannten sie eine fast kindliche Offenheit und Neugier als wesentliche Antriebsfeder für ihre Tätigkeit. Hier ergibt sich ein logischer methodischer Auftrag an den Lehrer. Er sollte alles in seiner Macht Stehende versuchen, um den Schülern ihren kindlichen Forscherdrang zu erhalten.

Das Geheimnisvolle darf nicht entzaubert, sondern muß enträtselt werden, und zwar von den Schülern. Diese sollten Erkenntnisse und Einsichten wirklich selbständig gewinnen, Zusammenhänge und Querverbindungen auf eigene Faust entdecken. Dabei lernen sie unter anderem, daß die Realität gegen beliebige Einfälle Widerstand leistet, was wiederum ein Impuls zu kreativen Lösungsansätzen sein kann. Es gibt kein Fach, in dem dieses Prinzip nicht umzusetzen ist.

Entscheidend für eine Ermöglichung des Kreativen im schulischen Gesamtkontext ist die Einsicht, daß ein kreativer Transfer kaum stattfindet. Den Musikern und Zeichnern das Kreative zuzuschanzen ist unredlich. Wer ein schönes Bild malt, kann nicht automatisch eine nette Geschichte erzählen. Wer, wie unlängst vier meiner Schüler, in Musik eine komplizierte vierstimmige Rhythmusfuge komponiert, ist nicht unweigerlich in Mathematik kreativ unterwegs.

* Bezüglich der Sozialerziehung macht Csikszentmihalyis Studie auf einen interessanten Aspekt aufmerksam.

Das Ertragen der Einsamkeit ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für intensive Arbeits- und Denkprozesse. Anders gesagt, nur jene begabten, neugierigen, ausdauernden Menschen können in einer Domäne, die Kreativität verlangt, wirklich erfolgreich sein, welche auch gelernt haben, Einsamkeit als inspirierend zu erleben. Für die Erziehung heißt das, man sollte nicht krampfhaft versuchen, Kinder, die aufgrund ausgeprägter intellektueller Interessen am Rande einer Gruppe stehen, zwangsweise zu integrieren.

In unserer Gesellschaft muß auch Platz sein für komplexe Persönlichkeiten, die von der Norm abweichen. Denn Jugendliche, welche sich trotz der scheelen Blicke ihrer Altersgenossen ihren ganz spezifischen intellektuellen oder künstlerischen Interessen widmen, entwickeln auch notgedrungen jenen Widerstandsgeist, der unbedingt erforderlich ist, um allgemein akzeptierten Meinungen die Stirn zu bieten und unkonventionelle Problemlösungsmodelle überzeugend zu vertreten.

Die Autorin ist Assistentin an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien und AHS-Lehrerin.

Buchtip Kreativität. - Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. Hartmut von Hentig, München 1998.

Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden.

Mihaly Csikszentmihalyi, Stuttgart 1997.

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