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Staatsbürgerkunde im Mittelschulunterricht

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Unser österreichisches Mittelschulwesen weist so viele Vorzüge gegenüber anderen Mittelschulsystemen auf, daß wir mit Recht stolz darauf sein können. Sein größter Wert, auf den wir — allen Einflüsterungen zum Trotz — niemals verzichten dürfen, beruht ohne Zweifel darin, daß es streng an dem Grundsatz der Allgemeinbildung im Gegensatz zur Fachbildung festhält. Nicht in allen europäischen Staaten ist dieses Prinzip im Lehr- und Erziehungssystem der Mittelschule vorherrschend. Namentlich die angelsächsische Mittelschule kennt in den oberen Klassen bereits eine weitgehende Spezialisierung, die den Traditionen unserer Mittelschule fremd ist. Sosehr wir also darauf bedacht sein sollen, keine Abweichung von den universalen Bildungszielen der Mittelschule zu dulden, müssen wir doch auch bereit sein, solche Reformgedanken, die ganz auf der Linie der allgemeinen Bildungsaufgabe liegen, bereitwillig aufzugreifen und ernsthaft zu erwägen. Hieher gehört auch die schon von verschiedenen Seiten gegebene Anregung eines Ausbaues des staatsbürgerkun d 1 ichen Unterrichts.

Es ist zwar sicherlich richtig, daß die universale kulturelle Schau, die der Mittelschüler vermöge der Vielgestaltigkeit des ihm gebotenen Wissensstoffes zu gewinnen vermag, auch den politischen Weitblick der jungen Menschen in hohem Maße fördert, aber eben nur hinsichtlich eines Teilausschnittes des staatlidien Lebens, nämlich jenes Bereiches, den wir unter dem Namen „Kulturpolitik“ zusammenzufassen pflegen. Alle übrigen Sparten des Staatslebens — also die eigentliche Staatspolitik, ferner die Wirtschaftsund Sozialpolitik — finden im Lehrplan der heutigen Mittelschule nahezu überhaupt keine Berücksichtigung. So kommt es, daß der Abiturient beispielsweise zwar bestens Bescheid weiß über die „Berechnung eines Dreieckes mittels des Halbwinkelsatzes in logarithmisch nicht unterbrochenem Vorgang“, wogegen ihm etwa die Grundbegriffe des römischen Rechtes, ja meist sogar die Unterschiede zwischen Straf- und Zivilrecht, die Verwaltungsorganisation des Staates, die Bedeutung und Anlage des Grundbuches, die Vorgänge an der Börse und die wichtigsten Gebiete des Sozialrechtes völlig unbekannt sind. Fast gewinnt man den Eindruck, als sei bei der Zusammenstellung der Mittelschullehrpläne völlig vergessen worden, daß doch auch d i e staatlichen Einrichtungen, das Recht, der komplizierte Mechanismus des modernen Wirtschaftslebens und die große Fülle sozialpolitischer Schöpfungen Wesensbestandteile unserer Kultur sind und daß daher eine gewisse Vertrautheit mit ihnen notwendig zur Allgemeinbildung gehört. In den Zeiten des Obrigkeitsstaates — wenn wir die konstitutionelle Monarchie hier so nennen wollen — mag es allenfalls statthaft gewesen sein, Allgemeinbildung auch ohne das Rüstzeug staatsbürgerkundlichen Wissens zu denken und die Mittelschule dementsprechend zu gestalten, im demokratischen Staat kann die Beibehaltung eines solch reduzierten Begriffes „Allgemeinbildung“ nur als atavistisch erscheinen.

Wir könnten uns diese Reform in der Weise vorsteilen, daß unter dem Sammelnamen „Staatsbürgerkunde“ zwei neue Lehrgegenstände — Staats- und Rechtskunde einerseits, Sozial- und Wirtschaftskunde andererseits — eingeführt werden. Für diese beiden Gegenstände, die in der siebenten und achten Klasse zum Vortrag gelangen, mit Exkursionen (zum Beispiel ins Parlament, zu einer Gerichtsverhandlung, ins Grundbuch, in die Börse usw.) verbunden und auch als mündliche Prüfungsgegenstände bei der

Matura zugelassen werden sollten, wären wohl mindestens zwei Wochenstunden erforderlich, die auf Kosten anderer, bisher allzu vordringlich behandelter Fächer gewonnen werden müßten. Die Staatsund Reditskunde würde man am besten der siebenten Klasse, die Sozial- und Wirtschaftskunde der achten Klasse vorbehalten. Zum Komplex der Staats- und Rechtskunde wären zu zählen: 1. eine Übersdrau über die staatliche und rechtliche Entwicklung Österreichs bei gleichzeitiger Klärung der Zentralbegriffe des römischen Rechtes, 2. Grundbegriffe der Staats- und Verfassungslehre, 3. innerer Aufhau des öffentlidien und zivilen Redites (mit praktischen Beispielen, welche die Wichtigkeit wenigstens rudimentärer Rechtskenntnisse für jeden gebildeten Staatsbürger dartun) und

4. Grundzüge des internationalen Rechtes und der überstaatlichen Organisationsgebilde. Der Lehrgegenstand Sozial- und Wirtschaftskunde hätte zu umfassen: 1. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in großen Zügen, 2. Grundformen der gesellschaftlichen Gestaltung und wirtschaftlichen Organisation, 3. die wichtigsten volkswirtschaftlichen Theorien, 4. Grundzüge des Finanz- und Steuerwesens,

5. Übersicht über die sozialpolitische Gescfzgcbung Österreichs, 6. einige Grundbegriffe der Statistik.

Diese Bereicherung des Mittelschulunterrichts würde vor allem dadurch, daß sie die Schüler mit dem auf ihre Mitarbeit wartenden staatlichen, rechtlichen, sozialen- und wirtschaftlichen Leben von heute in engste geistige Verbindung brächte, auch ganz erheblich zur Verlebendigung des Lehrbetriebes beizutragen vermögen. Daß dies für die Erweckung eines editen und tiefen, nicht bloß geheuchelten Interesse der Obermittelschüler pädagogisch sehr nützlich wäre, dürfte kaum ernsthaft in Abrede zu stellen sein.

Die Hauptschwierigkeit, die neben dem schon erwähnten Zeitmangel gegen diese Neuerung spricht, ist natürlich das Fehlen geeigneter Lehrkräfte. Indes ließe sich auch hier bei gutem Willen unschwer ein Ausweg finden. Für die Übergangszeit, bis eigene Mittelschullehrkräfte zum Vortrag des Lehrfaches „Slaaisbürgcikunde“ herangebildet sind, konnte man graduierte Staatswissenschaftler, denen damit ein schönes Feld beruflicher Tätigkeit erschlossen würde, für die Erteilung des staatsbürgerkundlichen Unterrichts in Anspruch nehmen. Soviel ich mich erinnere, ist ein derartiger Vorschlag, der gewiß ernsteste Beachtung verdient, im Herbst des verflossenen Jahres von einem Mitarbeiter der Berichte und Informationen“ gemacht worden.

Die zeitgemäße Ergänzung unserer überkommenen, allzu engen Vorstellungen von Allgemeinbildung legt jedenfalls eine Reform der Mittelschule in dem eben dargelegten Sinn nahe. Darüber hinaus aber müssen alle, denen die so viel beklagte politische Indifferenz und Resignation der heutigen Jugend als eine beängstigende Zeiterscheinung bewußt wird, für eine systematische staatsbürgerkundliche Unterweisung der Mittelschüler plädieren.

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