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Die unerfüllbaren 36

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Der Schulbeginn wirft ein drastisches Schlaglicht auf die Schülerzahlen an Österreichs Bildungsstätten. Die Schulgesetze sind unerfüllbar. Die Lehrer handeln — formell — ungesetzlich. Die Bundesländer sind sich jedoch einig, dafj es nicht dazu kommen darf, Schüler abzuweisen, nur weil ihre Aufnahme In ein Gymnasium oder Realgymnasium die Überschreitung der im Gesetz bestimmten Schüleranzahl bedeuten würde. Einzelne Landeshauptleute haben bereits entsprechende Bestimmungen erlassen und ihrem Beispiel werden sicher alle folgen.

Hätten sie nicht so gehandelt, müfjten etwa

• im Realgymnasium Völkermarkt (Kärnten) 31 Schüler, die ihre Aufnahmsprüfung bestanden haben, abgewiesen werden;

• im Bundesgymnasium Klagenfurt 16 Schüler auf den Schulbesuch am Ort verzichten;

• im zweiten Gymnasium Klagenfurt sogar noch mehr, da bei 172 Neuschülern und 20 Repetenten auch mit vier ersten Klassen zu je 40 Schülern das Auslangen nicht gefunden werden kann.

Wie immer sich die Verantwortlichen aus der Klammer des Gesetzes befreien werden —- einzig wichtig ist, dafj sie es tun, denn der Bildungswille darf nicht an einem Buchstaben scheitern.

Die bisherigen Diskussionen über die Einführung der Klassenschülerhöchstzahl 36 haben in bemerkenswerter Übereinstimmung das allgemeinbildende Pflichtschulwesen nahezu völlig ausgeklammert. Es ist — offenbar weil die konkrete Lehrervorsorge in die äußere Organisation und damit in die Länderkompetenz fällt — auf Bundesebene nicht genügend aktuell und interessant. Es geht dabei aber außer den zirka 2300 Klassen mit noch mehr als 40 Schüllern um zirka 3000 Klassen mit 37 bis 40 Schülern.. Da schon bis

Der Hemmschuh: Lehrermangel

Obwohl 5000 Dienstposten unbesetzt sind, ist die Durchschnitts- schüleirzahl pro Lehrer unverändert, und das, obgleich die Gesamtschülerzahl seit 1960 um fast 150.000 ansitieg (einschließlich der Auswirkungen des neunten Pflichtschuljahres). Es ist also — um es ganz deutlich zu sagen —- bis jetzt nicht schlechter geworden, sondern nicht so gut, wie es das Schulgesetzwerk 1962 beabsichtigte. Derrn die 5000 fehlenden Lehrer mitgerechnet, würde sich eine Durchschnittsschülerzahl von 23,8 ergeben

her fast 5000 Dienstposten im allgemeinbildenden Pflichtschulwesen wegen Lehrermangels unbesetzt sind und vor allem durch Mehrdienstlei- stungen erfüllt werden müssen, würde die Einführung der Klassen- schüleirhöchstzahl 36 den Abgang auf zirka 8500 erhöhen, das heißt, jeder fünfte Dienstposten müßte ersatzweise erfüllt werden, vier Lehrer einen fünften durch Mehrdienstlei- stunigen ersetzen. In Wirklichkeit sind die Verhältnisse natürlich viel komplizierter, denn es gibt Länder mit nur geringerem Lehrermangel (wie Wien, Burgenland und Salz-

bürg) und andere mit außerordentlich hohem (wie Olberösterreich, Vorarlberg und Niederösterreich).

Anderseits sind alarmierende Nachrichten über die Gesamtsituation unangebracht, wie folgende Zahlen des allgemeinbildenden Pflichtschulwesens zeigen:

und bei Berücksichtigung der Klassenschülerhöchstzahl 36 von 21,7. Was das Schuilgesetzwerk 1962 an Verbesserung in der Lehrverpflichtung und in sonstiger dienstrechtlicher Hinsicht brachte, muß nun noch durch Mehrdäenstleistungen ausgeglichen werden — es sind zweifellos fühlbare Belastungen, aber immerhin bezahlte.

Der Lehrermangel, der auf Jahre hinaus noch unbehebbare Lehrermangel ist es, der die Durchführung des Schulgesetzwerkes 1962 hemmt, der auch die Einführung der Klas-

senschülerhöchstzahl 36 verhindert. Wieso mußte es dazu kommen?

Der Nachwuchs ist da

Trifft das Verschulden die Lehrerbildung? Der Lehrernachwuchs betrug 1937 zirka 900, 1950 zirka 900, 1960 zirka 850, aber 1965 das Doppelte und 1967 gar das Dreifache davon, für 1968 ist mit zirka 1750 zu rechnen. Dazu muß man wissen, daß diie bisherige österreichische Lehrerbildung räumlich und personell auf einen Lehrernachwuchs von höchstens 1000 bis 2000 pro Jahr angelegt war, ihre Ausweitung auf das

Doppelte und Zweieinhallbfache war mit einer unvorstellbaren Belastung der Anstalten und der Lehrerbildner verbunden, die noch viel zuwenig gewürdigt wird. Drei Maßnahmen waren für die Ausweitung entscheidend gewesen: die Genehmigung von Paralteljahrgängen, die

gängen, und eine großzügige Stu- diienfördermagA wpr.j L der österreichischen Schulgeschichte hat die Lehrerbildung einen so großen Lehrernachwuchs wie in den letzten Jähren hervorgebracht.

Bleibt die Frage, ob mit der Steigerung des Lehrernachwuchses zu spät begonnen wurde. Schon die Landesschulinspektorenkonferenz

1957 hat auf die Gefahr des Lehrermangels hingewiesen. Damals aber war eiben eine Periode des Lehrerüberschusses im Abklingen, wodurch die eingeleiteten Werbemaßnahmen stark beeinträchtigt wurden. Erst in den sechziger Jahren wurde der Lehrerbeiruf für die breite Öffentlichkeit wieder ein Beruf mit Zukunft. Man wird auch nicht übersehen, daß die altai fünfjährigen Lehrerbildungsanstalten für rasche Anpassungen zu unbeweglich waren, es dauerte fünf Jahre, bis Verstärkungen des Eintrittsjahrganges zum Tragen kamen. Die Geburtenjahr- gänge stiegen zwar seit 1953 an, aber aus der Tendenz früherer Jahre und Jahrzehnte konnte nicht mit Sicherheit geschlossen werden, wie lange und wie hoch sie steigen würden. Es ist bekannt, wie viele Faktoren dabei eine Rolle spielen und daß sich die meisten Prognosen als unzutreffend erwiesen haben. Aber der tatsächliche Lehrernachwuchs hätte — wie wär oben gezeigt haben — das Ansteigen der Schülerzahl ohne größere Schwierigkeiten bewältigt.

Die schulpolitischen Realitäten

Dagegen konnten die Auswirkungen des Schulgesetzwerkes 1962 erst ab 1962 überlegt und erst nach Festsetzung der Termine abgeschätzt werden. Nur eine weiträumige Streuung der Durchführungsabschnitte hätte den unabwendbaren Lehrermangel in erträglichen Grenzen gehalten — unabwendbar, denn man kann in Zeiten der Konjunktur nicht Lehrer sozusagen auf Reserve ausbilden. Von den im großen schulpolitischen Ausgleich vereinten Interessengruppen konnte man, wo sie 40 Jahre darauf ungeduldig geharrt hatten, kaum erwarten, daß sie sich Termine auf Jahrzehnte setzten. Dazu kam eine Bildungsexplosion ungeahnten Umfanges, erfreulicherweise auch in der Form der Beseitigung des Bildungsigefälles

von Stadt und Land. Was hätte man weit in die siebziger Jahre zurückstellen sollen: die Neuregelung der Lehrerbildung, die Ausweitung des Hauptschulwesens, die Einführung des neunten Pftichtschuljahres, die Senkung der Lehrverpflichtung, die sonstigen dienstrechtlichen Verbesserungen, die Herabsetzung der Klassenschülerhöchstzahlen ? Die Antworten sind je nach Zugehörigkeit und Interessen verschieden. Was in der Polemik leicht ist, erwies sich in den schuttpolitiischen Realitäten als sehr schwierig.

Die Durststrecke steht bevor

Es ist aber Außerordentliches schon geschehen: Die dienstrečht- lichen Besserstellungen wurden erfüllt, das neunte Pflichtschulja.hr und das Ansteigen der Schülerzahlen bewältigt, die Ausweitung des

Haupt- und Sonderschulwesens fortgeführt — und das alles, Ohne daß eine Verschlechterung in den durchschnittlichen Schülerzahlen gegenüber 1960 eintrat. Zugegeben, das härteste Jahr, 1969 70, steht uns noch bevor. Denn die Neugestaltung auch der österreichischen Lehrerbildung bewirkt, daß im Jahre.1969 der geringste Lehrernachwuchs unseres Jahrhunderts (um 300) zustande kommt. Alle Erwartungen richten sich in dieser Situation auf die''neue

Lehrerbildung und auf das Geschick der Schulbehörden, durch befristete außerordentliche Maßnahmen die schwierigste Strecke in der Durchführung des Schulgesetzwerkes im Bereiche des allgemeinbildenden Pflichtschulwesens zu bewältigen.

Die Umstellung auf die Akademisierung

Der neuen Lehrerbildung steht aber gleich am Beginn eine besondere Bewährungsprobe bevor: nicht nur besser ausgebildete, sondern auch genug Lehrer hervorzubringen. Nun hat aber die Umstellung auf die akademische Lehrerbildung überall zunächst zu einem Rückgang im Lehrernachwuchs geführt. Nach den bisherigen Meldungen für die Pädagogischen Akademien (Ende Juni etwa 2100) ist zu erwarten, daß sie im Herbst 1968 mit etwa 2000 bis 2200 Studierenden eröffnen können, das ist mdhr, als zu erwarten war. Diese Zahl entspricht ziemlich genau der auch im Anstand üblichen Jahresquote von 5 Prozent der Gesamt- lehrerzahl (Österreich von schließlich 40.000 bis 45.000). Alle Bemühungen gehen dahin, in den nächsten Jahren eine höhere Eintrittszahl zu erreichen, um einen rascheren Abbau des Lehrermangels zu bewirken. Diesem Bestreben sind vom Matu- rantenreservoire gewisse Grenzen gesetzt, im Interesse nicht zu unterschiedlicher Studien- und Dienstjahrgänge sollte man auch nicht Steigerungen auf jede Höhe versuchen. Übersteigerungen werden —• wie immer in der Vergangenheit — unweigerlich Lehrerüberschuß beziehungsweise Stauungen im Matu- rahteinrhBervbire zur Folge haben. Und das ist nicht weniger bedenklich als erträglicher Lehrermangel.

Das Gefälle der Bundesländer

Die Klassenschülerhöchsitizahl 36 wird also nur Wien sofort erfüllen können, wenn es einen Teil seines Lehrerüberhanges umwidmet beziehungsweise Zuzug aus anderen Bundesländern erhält. Burgenland und Salzburg werden bestenfalls etwa in einem Jahrfünft zu dieser Begrenzung in der Lage sein, die übrigen Bundesländer später, zuletzt Vorarlberg und Oberösterreich. Wenn ein fühlbarer Schülerrückgang einsetzt — bisher ist das Abnehmen der Geburten jahrgangsstärken unbedeutend —, wird allerdings der

vorzeitigen Erfüllung der- Klassen- sichülerhöchsitaahl 36 in mehreren Bundesländern ein Lehrerüberschuß folgen.

Alle Prognosen berücksichtigen aber nicht, daß eine starke Veränderung in der Geschlechterproportion des Lehrernachwuchses vor sich geht: Nur noch 30 Prozent der Aufnahmewerber der Pädagogischen Akademien sind Burschen. Den daraus folgenden Auswirkungen wird freilich die Pädagogische Akademie flexibler Rechnung tragen können als die bisherige Lehrerbildung.

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