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Wirbel um Gymnasien

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An Österreichs allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) brodelt es: Rudolf Schottens neues Finanz-Verteilungssystem gefährdet Freifächer und Übungen.

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An Österreichs allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) brodelt es: Rudolf Schottens neues Finanz-Verteilungssystem gefährdet Freifächer und Übungen.

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Jedes Jahr im März werden in Wien wie in den Bundesländern die Weichen für das kommende Schuljahr gestellt. Vorerst provisorisch wird an allen allgemeinbildenden höheren Schulen in Österreich

□ aufgrund der Neuanmeldungen die Zahl der ersten Klassen festgelegt,

□ werden die schon bestehenden Klassen fortgeschrieben - also die ersten zu zweiten Klassen gemacht, die zweiten zu dritten,

□ wird schließlich aufgrund von Erfahrungswerten das Angebot an Freifächern und unverbindlichen Übungen wie Gymnastik, Basketball, Chorgesang, Chemie, Klavier, Bühnenspiel und anderen und

□ der Bedarf an Nachmittagsbetreuungsgruppen festgelegt.

Im September finden die Wiederholungsprüfungen statt, von deren Ausgang die endgültige Zahl der. Klassen und Gruppen abhängt, und es wird die definitive Jahreseinteilung getroffen. Auch wenn die Ersterstellung dieser Pläne nur provisorisch gemeint ist, so hält das Ministerium dennoch an der März-Version fest und sagt für heuer- den „Abweichlern" entschieden den Kampf an.

Damit ein für alle Mal das Problem aus der Welt geschafft und gerecht gelöst werde, weist das Ministerium jedem Bundesland die Mittel für das kommende Schuljahr nach der Zahl seiner Schüler an. Was auf den ersten Blick als allgemein gerecht erscheint, entspricht aber keineswegs dem tatsächlichen Bedarf und ist geeignet, die Rivalität unter den Landesschul-räten zu schüren.

Ein Gymnasiast in Vorarlberg oder im Burgenland ist eben nicht einem Schüler in Graz, Salzburg oder Wien gleichzusetzen. Die geographische Lage - im ländlichen Raum oder in Ballungszentren - spielt dabei eine wesentliche Rolle.. Ein umfangreiches Nachmittagsangebot an Freifächern und unverbindlichen Übungen wird etwa durch die Fahrpläne der ÖBB auf dem Land unmöglich gemacht, wogegen es in Ballungszentren wie Wien, Graz oder Salzburg angenommen werden kann. Andrerseits ist die nachmittägliche Betreuung der Kinder durch die Schule nicht so notwendig, wenn die Großeltern in der näheren Umgebung der Schule wohnen und das Enkelkind betreuen können. In Wien ist die Zahl der berufstätigen Mütter viel höher. Sie profitieren wie ihre Kinder von den Tagesheimschulen und Tagesschulheimen an den AHS.

Was soll es also, wenn nun nach der Weisung des Ministers jedem Bundesland die Mittel entsprechend der Kopfzahl zur Verfügung gestellt werden, auch wenn aus den Berichten der Vorjahre eindeutig hervorgeht, daß es nicht möglich sein wird, zusätzliche Mittel auszuschöpfen?

Was geschah bisher mit solchen freiwerdenden Mitteln? In einem bundesweiten Ausgleich stellte sie das Ministerium jenen Bundesländern zur Verfügung, deren Bedarf größer war. Heute wird der Minister keinen Ausgleich herstellen, weil er seine Mittel auf einmal verteilt und es - im Sinn der proklamierten Autonomie der Schule - den Bundesländern überläßt, wie sie die Gelder verteilen. Ob wohl wirklich ein Bundesland, das heuer mehr Geld bekommt als im Vorjahr, dieses Geld von sich aus nicht verwenden wird, um sie einem andern mit mehr Bedarf abzutreten?

Was sind die Folgen? Wenn eine Schule nur einen beschränkten Etat zur Verfügung hat, wird sie sicher alle Extras genau überprüfen. Wenn sie nicht verpflichtet ist, ein Freifach oder eine unverbindliche Übung anzubieten, wird sie ihr Geld nicht gerade dort investieren. Bevor eine Klasse auf 36 Schüler aufgestockt wird, werden eher einige Freifacher fallen müssen.

Wen aber trifft das am meisten? Doch die interessierten und engagierten Schüler, die ein zusätzliches Bildungsangebot auch annehmen. Ist das Interesse des Staats an der Förderung von Talenten und Begabungen tatsächlich' auf Null gesunken? Kann sich Österreich das gerade in dem Moment leisten, da es zum Sprung nach Europa ansetzt?

Hat Minister Rudolf Schölten nicht bedacht, daß die Schülerzahlen in den Ländern nicht eingefroren werden können wie die Angebote an Freifächern und unverbindlichen Übungen? Der Zustrom zu den Gymnasien hält unvermindert an - wo bleiben die gegensteuernden Maßnahmen der Bildungspolitik? In Wien sollen heuer mit unverändertem Budget um 17 Klassen mehr versorgt werden. Meint der Minister, diese Kinder könnten abgewiesen oder auf die umliegenden Landbezirke aufgeteilt werden?

Noch etwas: Repetenten dürfen nicht abgewiesen werden. Damit können die Schülerzahlen pro Klasse bald auf 36, die gesetzliche Obergrenze, steigen. Und das in einer Zeit, da - mit Weisung der letzten Unterrichtsminister - die Lehrpläne längst auf kleinere Klassen und Gruppen ausgerichtet wurden.

Schließlich erregt auch die Vorgangsweise des Ministers bei allen Beteiligten Empörung: In einem Land, in dem die Sozialpartnerschaft Tradition hat und auf bemerkenswerte Erfolge verweisen kann, wurde keiner der betroffenen Partner in die Entscheidung eingebunden - ein Beispiel tollkühner Eigenmächtigkeit. Die überfallsartige Befragung zur Ferienordnung und zur Fünftage-Woche war ein primitives Ablenkungsmanöver, das von den wirklichen Problemen nicht ablenken kann. Die Autorin ist AHS-Professorin in Wien

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