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Ort der Begegnung Österreich-Türkei

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Eine Kontaktstelle zur Welt des Islam - so bezeichnet der Direktor des von österreichischen Lazaristen-Patres geführten St.-Georgs-Kollegs in Istanbul die Aufgabe seiner Schulen. Hofrat Ernest Raidl CM stellt sie im Rahmen der FUR-CHE-Serie „Österreichs Visitenkarte in der Welt“ vor.

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Eine Kontaktstelle zur Welt des Islam - so bezeichnet der Direktor des von österreichischen Lazaristen-Patres geführten St.-Georgs-Kollegs in Istanbul die Aufgabe seiner Schulen. Hofrat Ernest Raidl CM stellt sie im Rahmen der FUR-CHE-Serie „Österreichs Visitenkarte in der Welt“ vor.

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In einer Zeit, in der der Atheismus allenthalben zum Idol erhoben ist, müssen wohl zwei so große Religionen, wie Christentum und Islam, die am Glauben an den einen wahren Gott festhalten, im gemeinsamen Kern der Wahrheit miteinander in Kontakt kommen. Es ist erfreulich, daß Christen und Muslim sich in Konferenzen und Symposien treffen, einander anhören, miteinander zu reden beginnen - wenn es auch noch schwierig genug ist - und sich in ernsthaften theologischen und wissenschaftlichen Untersuchungen und Darstellungen gegenseitig zu erkennen zu geben versuchen.

Eine solche Kontaktstelle zur Welt des Islam in einem Land, in dem 99 Prozent der Bevölkerung dieser Religion angehören, in der Türkei, ist das österreichische Sankt-Georgs-Werk in Istanbul. Vor bald hundert Jahren wurden Kirche und Klostergebäude „Zum heiligen Georg in den Weinbergen“ von den österreichischen Barmherzigen Schwestern und Lazaristen käuflich erworben. Knapp 100 Meter unterhalb des Gala-taturms, mitten im Gewinkel enger Gäßchen des alten Stadtviertels „Ga-lata“, heute Karaköy, unweit von der Galatabrücke, die das Goldene Horn überspannt, liegt dieses Anwesen, heute mit Kirche, Spital und Kolleg.

Dieses St.-Georgs-Werk wurde 1882 von österreichischen Lazaristen und Barmherzigen Schwestern gegründet. Die Grazer Schwestern waren gekommen, um zur Zeit einer verheerenden Cholera-Epidemie die verlassensten Kranken zu pflegen, die Lazaristenpriester, um die in der Diaspora unter den Muslim lebenden österreichischen und deutschen Katholiken in Konstantinopel seelsorglich zu betreuen.

Aus der Hilfsaktion in der Pflege der Cholerakranken entwickelte sich das österreichische St.-Georgs-Spi-tal. Heute hat es 70 Betten und einen ausgedehnten Ambulanzbetrieb.

Das St.-Georgs-Kolleg war begründet als Volksschule für Kinder deutschsprechender katholischer Familien in Konstantinopel. Später wurden ein Gymnasium und eine Handelsakademie angeschlossen und das Kolleg auch muslimischen Schülern geöffnet, die zunächst allerdings in der Minderzahl blieben. Die günstige Entwicklung wurde 1919 unterbrochen. Das Kolleg wurde nach dem verlorenen Krieg von den Besatzungstruppen der Entente-Mächte geschlossen. Erst 1924 konnten die Schulen wieder geöffnet werden, jetzt allerdings nicht mehr für Kinder der österreichischen Kolonie, sondern für türkische Kinder und Kinder der Familien der christlichen Minoritäten.

Der neuen gesetzlichen Lage entsprechend wurden die Schulen des Kollegs dem Privatschulgesetz unterstellt, um Anerkennung und öf-fentlichkeitsrecht zu haben. Der türkische Lehrplan wurde ergänzt durch den österreichischen und damit auch die Anerkennung in Österreich sichergestellt. Für Türkisch, Geschichte, Geographie, Heimatkunde, Gesellschaftslehre wurde Türkisch Unterrichtssprache, für alle übrigen Fächer blieb es Deutsch. Die deutschsprachigen Fächer werden von österreichischen Lehrern unter-1 richtet. Im August 1944 wurde das Kolleg erneut geschlossen.

Die Entfaltung zur heutigen Gestalt nahm das Kolleg, nachdem es 1948 die Pforten wieder öffnen konnte. Mit einer Hilfe, die die Heimat von den fünfziger Jahren beginnend im-

mer kräftiger gab, konnte das Gebäude des Kollegs restauriert werden, konnten Lehrmittel angeschafft und ein guter Lehrkörper aufgebaut werden. Insbesondere durch die pädagogisch, methodisch und didaktisch ausgezeichnete Arbeit dieses Lehrkörpers, in dem geistliche Schwestern, Priester und österreichische Lehrer in guter Zusammenarbeit mit den türkischen Lehrern ein festes Team bilden, gelang es, das St.-Georgs-Kolleg zu einer angesehenen und beliebten Schule unter den ausländischen Privatschulen in Istanbul zu machen.

Im Juni 1978 meldeten sich für die Knabenschule 2216 und die Mädchenschule 1575 Anwärter. Nur das bedeutend größere amerikanische Robert-College hatte unter den 16 ausländischen Schulen in Istanbul noch mehr Anmeldungen. Aus den Kandidaten werden durch eine Vorprüfung 150 Schüler ausgewählt. Die Gesamtzahl der Schüler im Schuljahr 1977/78 war in der Mädchenschule 565, in der Knabenschule 791.

Die Schüler des Kollegs sind zu 99 Prozent türkische Staatsbürger, der Rest Österreicher. Der Religionszugehörigkeit nach sind 82 Prozent Muslim, 17 Prozent Christen und ein Prozent Juden. Die Schüler kommen aus allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere aber aus der Mittelschicht

Die Schüler besuchen zunächst eine Vorbereitungsklasse, in der nur Deutsch gelehrt wird, damit sie dann von der ersten Klasse an dem deutschsprachigen Unterricht folgen können. Beim Abgang von der Schule beherrschen die Schüler Deutsch in Wort und Schrift. Mehr als die Hälfte der Absolventen setzt das Studium an österreichischen Universitäten fort. Aber auch der Zugang zu

den türkischen Universitäten ist den Schülern offen.

Erhalten muß sich das Kolleg aus den eingehenden Schulgeldern. Österreich leistet in Form von 42 Subventionsposten eine entscheidende Hilfe, fallweise werden auch Hilfen für Lehrmittel gegeben; türkische Lehrer und Schüler erhalten Einladungen für Österreichaufenthalte. Auch Wissenschaftsministerium, Außenministerium und Finanzministerium stehen dem Kolleg wohlwollend gegenüber. Die Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft, die Vereinigung österreichischer Industrieller, der Verein österreichischer Banken und Bankiers und andere sind Förderer.

Die Kirche zum heiligen Georg ist das Zentrum der Seelsorge an den in Istanbul lebenden Österreichern. Die Kirche ist mit Bildern von Anton Lehmden ausgestattet.

Oft genug wird uns die Frage nach dem Sinn und Zweck solcher Arbeit und solchen Aufwandes gestellt. Das Sankt-Georgs-Werk versteht sich als Kontaktstelle zur Welt des Islam und zum türkischen Volk. Es ist ein Ort der Begegnung zwischen Christen und Muslim, zwischen Türken und Österreichern. Diese Begegnung zu verwirklichen gibt dem Einsatz so vieler Menschen und solcher finanzieller Mittel Sinn und Zweck.

Ort der Begegnung heißt Ort, an dem gegenseitiges Kennenlernen angebahnt wird, heißt Achtung und Ehrfurcht voreinander zu haben lernen, heißt einander verstehen wollen und gelten lassen wollen, heißt Wege eines Lebens miteinander zu suchen. Und Ort der Begegnung heißt auch, die Tür zu solchem Tun offenhalten, auch wenn zur Zeit niemand eintritt, heißt also in Geduld warten können und sich bereithalten. Dies alles wird versucht von Mensch zu Mensch, am Krankenbett, im Klassenzimmer, setzt sich fort in einer dadurch begründeten Bekanntschaft, die oft zur Freundschaft wird.

Wenn man bedenkt, daß jährlich Hunderte Kranke im Spital stationär gepflegt werden und Tausende ambulant behandelt, daß seit 1948 mehr als 7000 Schüler durch diese Schulen gingen, so kann man sich einen Begriffmachen von der doch nicht allzu kleinen Breitenwirkung dieser Institution.

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