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Auserwählt fürs Knabenseminar

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Die feierliche Atmosphäre des Hauses nahm einen gleich gefangen: Die hohen und weiten Gänge, die vielen Bögen und gewölbten Räume, die auch außerhalb der Kapelle auf eigenartige Weise religiös stimmten. Die geistlichen Vorsteher in den langen schwarzen Gewändern, ihr gemessener Schritt, ihre ruhige Gebärde, ihre gehobene Sprache. Die zahlreichen Regeln und Vorschriften, deren wichtigste bereits in den ersten Stunden bekanntgegeben wurden, deren Einhaltung ungefragt hingenommen wurde und wie auf göttliches Geheiß aufgetragen war.

Schon die Sprache verhieß den Nimbus des neuen Bewußtseins, auserwählt zu sein. Man war kein Schüler mehr, sondern ein Seminarist. Man hatte keine Lehrer mehr, sondern Professoren. An die Stelle der Eltern, die ja schließlich jeder andere auch hatte, bekam man Präfekten als Erzieher. Man war zwar darauf gefaßt gewesen, nach den vier Klassen Volksschule nun wieder als Erstklässler am Gymnasium beginnen zu müssen. Doch dann hörte man erfreut, daß man ein Primaner war. Zwar erst im untersten Rang - und dennoch sprachlich herausgehoben und ausgezeichnet. Der lateinische Ausdruck schien die verschüchterte Existenz des zehnjährigen Neuankömmlings mit einem Schlag zu adeln. Es war deutlich zu spüren: Man war auserwählt.

Noch vor der ersten Lateinstunde lernte man die Stufenleiter schulischer Rangordnung in dieser Sprache zu benennen. Die Bezeichnungen klangen gut und weckten zugleich die Erwartung, über die Sekunda und die Tertia, die Quarta und die Quinta in die Oberstufe aufzusteigen. Sah man doch die Großen, die Sextaner und Septimaner mit hohem Wuchs und tiefer Stimme dem Ziel entgegenstreben: als Oktavaner, als Maturant und schließlich als Abiturient auf den nächsten Anfang zuzugehen, dem Studium an der Universität und am Priesterseminar. In den Seminaristen der höheren Klassen hatte man die nächsten acht Jahresziele und das erste große Etappenziel vor Augen.

Eine Regel, zwar nicht zu streng aber doch im wesentlichen eingehalten, verstärkte unsere Art, mit einer Mischung aus Begehrlichkeit und Sehnsucht zu den Großen aufzublicken: Man sollte nur Umgang mit den eigenen Klassenkameraden pflegen - Freundschaften quer durch die Altersschichten waren verpönt. Zu den Großen aufzuschauen und spätestens als Sekundaner auf die Kleineren herabzublicken, wurde zur Grundlage einer gutgegliederten Klassengesellschaft, zumal es in den einzelnen Klassen Ämter und Beauftragungen gab, die das Ansehen vermehrten: Die verschiedenen Stufen des Ministrierens, der Dienst als Vorleser im Speisesaal und im Gottesdienst, Ämter wie Bibliothekare oder gar die Senioren der siebenten Klasse, die den Präfekten vertreten und Aufsicht über die Schüler niederer Klassen führen durften, differenzierten Ansehen und Macht.

Im großen Speisesaal, der unterhalb der Kapelle die gleichen erhebenden Gewölbe wie der Kirchenraum aufwies, saß man bei den Mahlzeiten nach Klassen geordnet. Mittendrin aber, am auffallend weiß gedeckten Vorstehertisch, saßen die Geistlichen des Hauses in ihren schwarzen Talaren als immerwährende Erinnerung an das, was man selbst einmal werden wollte. Freilich nannte man die Vorsteher nicht wie die Priester daheim: Pfarrer oder Kaplan. Auch hier gab es nur Menschen besonderer Art wie nirgends sonst, jedoch in wohlabgestimmter Hierarchie wie in allen anderen Bereichen des Knabenseminars.

Zunächst kamen die Präfekten, die Untersten in der Stufenleiter geistlichen Ansehens und häuslicher Vollmacht innerhalb der Vorstehung. Jedem Präfekten waren ein oder zwei Klassen zugeteilt, zur Aufsicht, zur disziplinaren und pädagogischen Betreuung. Sie waren junge Priester, häufig selbst ehemalige Zöglinge des Hauses, und hatten meist erst wenige Jahre Kaplansdienst hinter sich. Neben ihrer Erziehertätigkeit - für die es keine besondere Ausbildung gab -erteilten sie an einer der umliegenden Schulen, nicht aber am Gymnasium, Religionsunterricht. Mit ihnen war man täglich, wenn nicht stündlich im Kontakt. Sie hatten die Aufsicht vom Aufstehen am Morgen bis zum Schlafengehen am Abend - unterbrochen lediglich während der Zeit des Schulunterrichts.

Auf einer höheren Stufe der häuslichen Hierarchie befand sich der Spiritual, ein Priester mittleren Alters, der sich um die geistlichen Belange der Seminaristen zu kümmern hatte. Für viele war er Beichtvater, für alle war er - wenn auch nicht immer erwünschter - geistlicher Führer und Berater. Daneben unterrichtete er Religion am öffentlichen Bundesgymnasium, das auch von den Seminaristen besucht wurde. Im Seminar selbst war er im Normalfall Zelebrant im täglichen und Prediger im sonntäglichen Gottesdienst. Ebenso hielt er die übrigen religiösen Übungen und Veranstaltungen, die Andachten, das tägliche Abendgebet in der Kapelle, die regelmäßigen Beichtvorträge und Einkehrtage. Die Trennung des disziplinaren vom religiösen Bereich war im Präfekten und im Spiritual vorgegeben.

Auf einer ähnlichen mittleren hierarchischen Ebene war ein Priester einzuordnen, der zwar keine unmittelbare Funktion im Knabenseminar ausübte, jedoch im Hause wohnte und an den Mahlzeiten am Vorstehertisch teilnahm. Er war ebenso wie der Spiritual Beligionsprofessor am Gymnasium und hatte deshalb mit den meisten Seminaristen auf diesem Weg wenigstens für einen Teil der Schuljahre als Lehrer zu tun. Er spielte eine eher informelle aber nicht unwichtige Rolle unter den Seminaristen und in der Vorstehung und sollte es später zu höchsten kirchlichen Würden bringen. (Was damals als Vorhersage kaum einen Seminaristen verwundert hätte. Umso mehr, als es später tatsächlich eintrat.)

An der Spitze der Vorstehung und des Knabenseminars stand der Rektor, ein echter römischer Monsignore: ein päpstlicher Ehrentitel, wie man bald erfahren konnte, ohne genauer zu wissen, was er zu bedeuten hatte. Lediglich die violette Bauchbinde -das Zingulum - zeigte zu besonderen Anlässen seine Würde an. Doch die Vorstellung, daß jemand vom Papst persönlich ausgezeichnet war und man selbst die Ehre hatte, unter seiner Leitung Seminarist zu sein, verstärkte das Bewußtsein der Erwählung. Als bald darauf auch der Spiritual mit gleicher Farbe und Betite-lung geehrt wurde, war jener klerikale Nimbus deutlich zu spüren, der subtile Eitelkeit mit demonstrativer Demut zu verbinden wußte. Der Bektor, der Spiritual und der Religionsprofessor waren Doktoren der Theologie, was den hierarchischen Abstand zu den Präfekten markierte, die nur einfache Priester waren, und den Zöglingen bewußt machte, welch hochqualifizierten Klerikern man anvertraut war.

Inmitten dieser künstlichen Welt der Knaben und Männer gab es dennoch Frauen. Reichlich verhüllt - wie es Ordensfrauen geziemt - aber spürbar anwesend und die männliche Welt in drei wichtigen Bereichen prägend: Die beiden ersten Klassen wurden von je einer Schwester betreut -sozusagen das mütterliche Element neben dem väterlich-strengen des Präfekten. So sollte in den ersten Seminarjahren die Abnabelung vom Elternhaus gefördert und das Heimweh nach der Mutter gemildert werden.

Die Schüler höherer Klassen blickten voll Nachsicht auf die Kleinen, die Schüler der ersten beiden Klassen, die noch von einer Frau betreut werden mußten, bevor sie in den engeren Kreis der Kirchenknaben und Kirchenmänner eintreten durften - abseits verweichlichter und des Altardienstes unwürdiger Weiblichkeit.

Außerdem wirkten im Küchen-und I Iaushaltswesen Ordensfrauen -unterstützt vom wenig sichtbaren und unscheinbaren weiblichen Küchenpersonal. Zuletzt gab es den Bereich der Krankenpflege unter der Leitung einer ebenso kleinen wie resoluten Schwester, welche die alltäglichen Verletzungen und Beschwernisse in abendlicher Ambulanz und auch die Krankenzimmer für die Bettlägerigen betreute. All dies in - wie es schien - unvermeidlicher Weiblichkeit und in jener dezenten Verhüllung, die nur das Gesicht und die Hände freiließ. Nie bekam man auch nur eine winzige Haarsträhne einer Schwester zu Gesicht, was den üppigsten Gerüchten über kahlgeschorene oder streng beschnittene Schwestern -köpfe reichlich Nahrung bot. Ähnlich, wie auch die Mutmaßungen über das Alter der Ordensfrauen auf abenteuerliche Weise divergierten.

Inmitten eines solch ungewohnten Personenkreises von Präfekten und Schwestern, von Primanern und Ok-tavanern, eingewiesen in ein neues Leben in ungewohnten Räumen, in Studier- und Schlafsälen, in Waschräumen und Kabinenklos, zusammengeführt in eine mehr als zweihundertköpfige Schar in Speisesaal und Kapelle, auf Spiel- und Sportplätzen, insgesamt in einem riesigen kloster- oder kasernenähnlichen Gebäude, das man nur über eine bewachte Pforte betreten oder verlassen durfte, am Rande einer Kleinstadt abseits der großen Städte und Verkehrsströme so begann ein neues Leben, für voraussichtlich acht lange Jahre.

Nach zehn Kindheitsjahren bei Eltern und Geschwistern daheim befand man sich viele Kilometer und etliche Reisestunden vom Elternhaus entfernt und zunächst für fast vier Monate ohne Besuchsmöglichkeit auf den Briefkontakt beschränkt - allein. Und all das nicht, weil man von den Eltern weggegeben worden wäre, sondern weil man selbst es wollte. Für einen Beruf, für den man Vater und Mutter - und noch vieles, von dem man damals nichts ahnte - verlassen und aufgeben zu müssen meinte. Die kindliche Sehnsucht nach herausgehobener Berufung zum geistlichen Stand war in einen unauflösbaren W i -derspruch zu einer anderen Sehnsucht getreten: der nach der Geborgenheit in der Familie, nach Eltern und Geschwistern. Ein unversöhnlicher Gegensatz.

Ein neues Leben hatte begonnen. Doch nicht in irgendeiner Schule oder in einem beliebigen Internat. Hier war ein besonderer Ort, und die Menschen waren besondere Menschen. Erwählte. Man war angekommen und aufgenommen, man wurde eingeführt und eingewiesen in ein neues Leben das Leben im erzbischöflichen Knabenseminar.

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