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Punktuelle oder strukturelle Lösungen?

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Otto Wagner war — nach einem Wort Adolf Loos' — der größte Architekt seiner Zeit, und freilich bestimmte er nicht den Durchschnitt dessen, was damals gebaut wurde. Aber mit einem Bauwerk, das durch die ganze Stadt reicht, gab er dem Häusermeer den Adel seiner Vision.

Während man unsere heutigen Verkehrslösungen als „punktuell“ bezeichnen könnte, ist die Stadtbahn ein Musterbeispiel einer , strukturellen Lösung. Sie beruht nicht auf Überlegungen der Art, diese Kreuzung müsse 'entlastet, das Verkehrsaufkommen jener Strecke müsse bewältigt werden. So waren ja die Stellwagen-und Straßenbahnlinien entstanden, mit denen man auch weiterhin das Auslangen gefunden hätte.

Die Stadtbahn beruhte auf der ganz und gar unpraktischen Überlegung, jeder Quadratkilometer des Stadtgebietes, dicht besiedelt oder nicht, müsse durch eine Bahnanlage mit jedem anderen verbunden sein. Die durchgehende Führung in der zweiten Ebene war, gemessen an heutigen Verhältnissen, mehr ein theoretischer Prograinmpunkt als eine Forderung der Praxis. Für den Praktiker heutigen Zuschnitts hätte dieser Bau die Irrationalität eines Doms gehabt. Der Betrieb wies auch ein Defizit auf, ohne daß das jemand gewundert hätte.

Was aber erreicht wurde, ist ein System leistungsfähiger Bahnstrecken, die zusammen mit den bestehenden Verbindungsbahnen in beliebiger Kombination betrieben und jederzeit erweitert werden konnten. Punkte dagegen ergeben nie ein System, auch wenn sie dicht nebeneinanderliegen, wie wir jetzt bei der Oper beobachten können.

Die Haltestellen dieser Bahn sollten nach dem Generalregulierungsplan Otto Wagners wichtige Zentralen des umliegenden Gebietes sein. Neben dem Personenverkehr sollten sie die Verteilung von Kphle und Baumaterialien, die Müll- und Schneeabfuhr bedienen, außerdem Feuerwehrstation und Leichenhalle enthalten.

Wenn dieses Konzept auch nicht verwirklicht wurde, so sind doch die Entwürfe Wagners, vor allem die frühen Stationen der Gürtellinie, so zu verstehen. Man muß sich auch allt mit der Stadtbahn zusammenhängenden Bauvorhaben vor Augen halten: die Errichtung der Gürtelstraße, die Regulierung und Einwölbung des Wienflusses, die Regulierung de Donaukanals und die Errichtung des Nadelwehrs in Nußdorf. Aus einer großartigen, optimistischen Vorstellung von der Großstadt und einem großzügigen Herangehen an ihre Aufgaben entstand eine Bahnanlage, die heute nicht nur nicht veraltet, sondern

im Gegenteil, unsere modernste geblieben ist.

• Dabei hatte das 1892 beschlossene Stadtbahnnetz entscheidende Mängel. Der Staat als Hauptfinancier vermied aus strategischen Gründen Radiallinien, die direkt zum Zentrum führten. So entstand ein System von einander berührenden Ringen, das Stadtzentrum blieb unerschlossen.

• Dabei wurde selbst diese Planung nur zum Teil ausgeführt. Fallengelassen wurden die Strecken vom Prater-stern nach Nußdorf entlang der Donau und vom Karlsplatz zum Schottenring über die heutige Zweierlinie.

• Dabei wurde nur ein Teil der ausgeführten Strecken 1924 von der Gemeinde übernommen und elektrifiziert. Die Vorortelinie blieb bei den Bundesbahnen, die die Gemeinde durch sinnlose Kündigungsbestimmungen zwangen, die Stadtbahn mit Straßenbahnwagen zu betreiben. Durch die Umstellung auf Kleinbahnbetrieb wurde

der elektrifizierte Teil seiner Verbindungen zum übrigen Wiener Bahnnetz beraubt.

Und dieser Torso ist noch immer das bestfunktionierende Verkehrsmittel Wiens; es leistet im Verhältnis zweieinhalbmal so viel wie die Straßenbahn und könnte heute, nach fast einem Jahrhundert, lediglich durch Rolltreppen verbessert werden.

Der Wiener „schaut hinaus“ ...

Aber der Geschmack hat sich doch in den letzten siebzig Jahren geändert, und wenn die Stadtbahn auch gut ist, vielleicht ist sie doch häßlich?

Als der Kursalon abgerissen werden sollte, meinten viele: „Häßlich oder nicht, wir lieben ihn.“ Dabei würden wenige den Kursalon auf einem Bild wiedererkennen. Wer sieht ein Bauwerk schon genau an? Aber jeder Wiener erkennt ein Stationsgebäude oder auch nur das Schutzgeländer der Stadtbahn wieder.

Nicht, daß diese Bauten aufdringlich um seine Aufmerksamkeit bemüht wären. So kraftvoll ihre Formenwelt ist, verschmelzen sie doch vollständig mit dem anonymen Häusermeer im Hintergrund. Gerade darum waren sie imstande, das Stadtbild so stark zu prägen, wie es seither nur die Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit vermocht haben.

Bedeutsamer als die formale Gestaltung einer Stadtbahn ist freilich, daß man mit ihr fahren kann. In Paris zum Beispiel verläßt man die Stadt an einem Punkt und betritt sie an einem andern wieder. Dazwischen orientiert man sich nach Lichtzeichen, Aufschriften, Richtungspfeilen. Die Strecke ist einfach nicht da; man versitzt eine gewisse Zeit und verbringt sie mit Zeitunglesen. Diese abstrakte Vorstellung eines Verkehrsmittels ähnelt mehr der Rohrpost und dem Telephon als der Eisenbahn.

Es ist kein Zufall, daß sich in Wien das Zeitunglesen in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht eingebürgert hat. Der Wiener „schaut hinaus“, auch in den Tunnels. Das hügelige Gelände zwang dazu, zwischen Hoch- und Tief-? bahn zu wechseln, und auch die Tiefbahn wurde womöglich im offenen Einschnitt oder, wie am Donaukanal, in Galerien geführt.

Welchen Eindruck der völlig neue Maßstab der Stadt auf die Zeitgenossen machte, können wir nur daran ermessen, daß die Stadtbahn jahrelang hauptsächlich für Vergnügungsfahrten

benützt wurde. Man muß sich vorstellen, daß die Fahrgäste mit ungeahnter Geschwindigkeit über die Häuser hinweg und unter den Hügeln hindurch bewegt wurden, daß sie die ihnen bekannte Strecke sahen, während sie sie mit größter Leichtigkeit überwanden.

Wir haben das Staunen verlernt, aber noch während des zweiten Weltkrieges, als das Auto noch nicht Allgemeingut war, gehörte eine Fahrt mit der Stadtbahn zu den Freuden, die man Kindern machte. Und wenn solche Raumerlebnisise uns nicht mehr zu begeistern vermögen, so ist doch die Stadtbahn das einzige Verkehrsmittel geblieben, das sie uns bietet.

Die Leistung eines Künstlers

Die großen Hoch- und Untergrundbahnen der Jahrhundertwende waren reine Ingenieurbauten, wenn auch zu ihrer Ausstattung zuweilen Künstler herangezogen wurden. Als Leistung eines Künstlers, als Schlüsselwerk eines großen Architekturpioniers steht

die Wiener Stadtbahn allein in der Welt. Die Erfordernisse der Technik wurden durch Wagners sichere Formensprache nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern aufs vollkommenste erfüllt — und optisch unmittelbar verständlich gemacht.

Die verwendeten Materialien entsprechen der Rangordnung der Gebäude in Wagners Stadtkonzept. Zunächst heben sich von den Strecken die Stationsgebäude ab, die in Putzbau, zuweilen mit sichtbaren Eisen-konsrruktionen, ausgeführt sind. Für die im Stadtbild nicht erscheinenden Tiefstrecken und Tunnels ist nur Schiohtenmauerwerk verwendet, das außerdem den knapp Vorbeifahrenden die stärksten optischen Reize vermittelt. Die Hochstrecken schließlich variieren je nach ihrer Entfernung vom Stadtzentrum: Quadermauerwerk bei der Vorortelinie, Ziegelmauerwerk bei der Gürtellinie. Die Galeriestrecke am Donaukanal war — als eleganteste — ganz in Eisen ausgeführt.

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