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Das Trauma von Munchen

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SUDETENDEUTSCHE GESCHICHTE. Eine volkstümliche Darstellung von Emil F r a n z e 1. Adam-Kraft-Verlag, Augsburg 1959. 439 Seiten. Preis 14.80 DM.

Im September 1938 einigten sich die vier Großmächte Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien in München über die Aufteilung der Tschechoslowakei, die schließlich zu deren völligen Zerstörung führte. Dieses „München“ selbst war wieder der Ausgangspunkt eines heftigen Revanchedenkens beim tschechischen Volk, das schließlich die Austreibung von mehr als drei Millionen Sudetendeutschen herbeiführte. So bildet „München“ ein echtes Trauma, das sowohl über dem tschechischen wie über dem sudetendeutschen Volk lastet und noch viele Jahre lasten wird.

Das „Trauma von München“ war auch die Veranlassung für die Abfassung des vorliegenden Werkes, das eine Art Rechenschaftsbericht über die gesamte sudetendeutsche Vergangenheit darstellen soll. Niemand war besser berufen, dieses Werk zu schreiben, als Emil F r a n z e I, der einer der wenigen Sudetendeutschen war, die .weder der Suggestion Henleins noch dem Mythos Hitlerl verfielen. Einst, zur Zeit der tschechoslowakischen Republik, dem Kreis um Wenzel Jaksch — dieses letzten großen k. k. Sozialdemokraten — nahestehend, zur Zeit der deutschen Okkupation Böhmens Retter der großen Masarykschen Privatbibliothek vor dem deutschen Zugriff, ist er heute einer der bedeutendsten konservativen Publizisten des süddeutschen Raumes. Vielleicht wird mancher Leser des vorliegenden Werkes über gewisse Abschnitte enttäuscht sein, da in diesen nur scheinbar wenig von der sudetendeutschen Geschichte die Rede ist, sondern immer nur wieder von der böhmischen, der österreichischen, der europäischen. Eben dies ist der große Vorteil des Werkes, daß es die Geschichte der Sudetendeutschen nicht vom stammhaften Gefüge allein, sondern in seinen vielfachen Verzahnungen mit allen jenen Räumen darstellt, in denen sudetendeutsche Geschichte abrollte. Nur zu deutlich wird sichtbar, daß der Verfasser sich als „Böhme“, als Österreicher, als Europäer fühlt und von diesem Standpunkt aus die Berechtigung ableitet, sowohl die Irrwege der tschechischen als auch der sudetendeutschen Politik darzustellen.

Die souveräne Ruhe, die den Verfasser bei der ganzen Darstellung beherrscht, wird nur im allerletzten Teil des Buches aufgegeben, in ienem Teil, der die, schreckliche Austreibung aus der alten Heimat und den nicht minder schweren Beginn des neuen Lebens in einer neuen Heimat darstellt. Hier bricht auch in der Darstellung das „Trauma von München“ durch, daß das ganze Denken jener Sudetendeutschen, die vertrieben wurden, durchzieht und noch lange belasten wird, ähnlich wie einst die Türkenkriege ein Trauma für die österreichischen Länder waren oder Sedan ein Trauma für Frankreich nach 1870 gewesen ist.

DAS SUDETENDEUTSCHTUM IN ZAHLEN. Von Alfred B o h m a n n. Herausgeber und Verleger: Sudetendeutscher Rat, München 1959. 283 Seiten.

Das „Trauma von München“ stand auch Pate bei der Abfassung dieses Werkes, das eine Bestandsaufnahme über die sudetendeutsche Volksgruppe von 1910 bis 1950 darstellt. Die Herausgeber haben mit unendlicher Akribie alle Unterlagen gesammelt, um die kulturellen, soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Sudetendeutschen in jenen so schicksalsschweren vier Jahrzehnten im Spiegel einer nüchternen Statistik aufzuzeigen. Mag es sich um die kirchlichen Verhältnisse der Sudetendeutschen handeln, um ihre politischen Parteien, um die Schulen, die Gewerkschaften, die Wirtschaft, die Industrie, alles findet der Leser, ebenso wie genaue Angaben über das Schicksal der Sudetendeutschen während der NS-Zeit und die Verluste im Krieg und durch die Vertreibung schildern. Leider findet der Leser aber keine statistischen Angaben über folgende Fragen: Wie viele Sudetendeutsche befanden sich in den Konzentrationslagern des NS-Regimes? Wie viele starben dortselbst? Wie viele wanderten bereits 193 8 aus? Welcher sudetendeutsche Besitz, zum Beispiel der Kirche, wurde von dem NS-Regime beschlagnahmt? Wie groß waren die Verluste des sudetendeutschen Judentums? Wie viele „Gottgläubige“ zählte das sudetendeutsche Volk? In dem Buch findet sich ferner wohl eine Statistik über die tschechische Bevölkerung in den sudetendeutschen Gebieten, die dem „Reich“ angeschlossen worden waren, aber keine Angaben, welches Schulwesen diese tschechische Bevölkerung besessen hatte. Fragen, die bei einer Neuauflage berücksichtigt werden müßten und dann erst das Buch zu einem vollständigen Nachschlagewerk machen würden. Denn über dem eigenen Trauma, unter dem man leidet, darf man die Traumata anderer Menschen nicht vergessen. DDr.

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