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„Die Sudetendeutschen waren keine Imperialisten“

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Nach den Verträgen mit Moskau und Warschau möchte der deutsche Bundeskanzler Brandt auch einen Vertrag mit Prag zustandebringen. Man spricht in Bonn sehr häufig von einer notwendigen „Normalisierung“ des Verhältnisses zu Prag. Bisher haben sich die Unterhändler aus Bonn und Prag dreimal, zuletzt Ende September, getroffen, ohne dem Ziel auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Für den deutschen Gesprächspartner Frank vom Bonner Außenministerium war überraschend, daß an Stelle von Milan Klušak der Stellvertretende Außenminister Jiri Götz am Verhandlungstisch erschien. Bei Götz handelt es sich um einen ausgesprochenen Wirtschaftsfachmann und man kann daher annehmen, daß Prag weniger an einer politischen Lösung, sondern eher an einer Bereinigung von wirtschaftlichen Fragen interessiert ist.

Vor der Presse in Bonn teilte Staatssekretär Frank mit, sein Gesprächspartner habe sich zwar betont höflich gegeben, sei aber in der Sache selbst hart geblieben. Haupthindernis für einen Fortschritt in den Verhandlungen sei, so betonte Frank, erneut die Prager Forderung nach einer „Nichtigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Anfang an, und zwar mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen“.

Kann Moskau auf die Regierung in Bonn immerhin einen militärischen und politischen Druck ausüben, so besteht für Prag eine solche Möglichkeit nicht; und daher hält man dort die ex-tunc Erklärung des Münchner Abkommens in den Karten. Dem Vernehmen nach soll sich Bundeskanzler Brandt bei seinem jüngsten Besuch bemüht haben, die Unterstützung Breschnews zu errei chen, um Prag zu einer Haltungsänderung zu bewegen.

Um die Situation aber zu verstehen, muß man etwas in die Vergangenheit zurückgreifen. Im Februar 1967 fand in Karlsbad eine Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien statt. Zu den in Karlsbad gegenüber der Bundesrepublik erhobenen Forderungen gehört die ex-tunc-Formel über das Münchner Abkommen. Am 6. Mai 1970 wurde in Prag ein sowjetischtschechoslowakischer „Freundschafts- und Beistandspakt“ unterzeichnet. Im Artikel 8 dieses Vertrages wird die beiderseitige Übereinstimmung über die Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an „mit allen sich daraus ergebenden Folgen“ festgelegt. Solange also Moskau einer Auflösung dieser Formel nicht zustimmt, kann Prag seinen bisherigen Standpunkt nicht aufgeben. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß im deutsch- sowjetischen Vertrag vom 12. August 1970 die ex-tunc-Formel weggelassen wurde und von einer bloßen Nichtigkeiterklärung des Münchner Abkommens die Rede ist.

Durch das Abkommen von München, das Chamberlain (Großbritannien), Daladier (Frankreich), Mussolini (Italien) und Hitler unterzeichneten, wurden 1938 die sudetendeutschen Gebiete dem Dritten Reich einverleibt und die dortigen Bewohner zu deutschen Staatsbürgern erklärt. Die Sudetendeutschen mußten selbstverständlich Kriegsdienst leisten. Durch eine Ungültigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Anfang an, wären die Sudetendeutschen nicht deutsche Staatsbürger geworden und hätten nicht als deutsche Soldaten am zweiten Welt krieg teilnehmen dürfen. Alle zwischen 1938 und 1945 vollzogenen Rechtsgeschäfte wären hinfällig. Man könnte sogar darüber streiten, ob eine vor dem Standesbeamten nach Reichsrecht geschlossene Ehe heute gültig wäre.

Durch die Nichtigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Anfang an wäre die Austreibung der Sudetendeutschen legalisiert, hätten sie doch nach Prager Ansicht gegen das Völkerrecht verstoßen. Außerdem könnte Prag einen Ersatz für die entgangenen Steuern und Wirtschaftserträge und darüber hinaus Reparationsleistungen für Kriegsschäden verlangen, ohne daß Bonn das den Sudetendeutschen entzogene Eigentum in Gegenrechnung stellen könnte.

Bisher haben die Kommunisten die Vertreibung der Sudetendeutschen immer als das Werk der „Bourgeoisie“ hingestellt und man war versucht, ihnen das auch zu glauben, denn erstmals gab Eduard Benesch im Jahre 1943 in London seine Absicht von der Aussiedlung der Sudetendeutschen bekannt. Die Kommunisten konnten also glaubhaft versichern, daß nicht sie die Erfinder dieser Idee waren. Sie haben sich allerdings auch niemals von diesen brutalen Maßnahmen distanziert. Nun hat aber die in Prag erschei nende deutschsprachige „Prager Volkszeitung“ vom 1. Oktober 1971 einen sehr interessanten Beitrag unter dem Titel „Die Aussiedlung aus neuer Sicht“ veröffentlicht.

Dort wird dargelegt, daß die tschechischen „Kapitalisten“ an der Aussiedlung der Deutschen kein Interesse hatten, weil sich die. „Bourgeoisie“ gegen die fortschrittlichen Kräfte verbinden wollte und die Deutschen die „Beschreitung fortschrittlicher Wege“ verhindert hätten. Und dann wird festgestellt: „Aus dem Ausgeführten geht hervor, daß die KPTsch besser imstande war, alle Möglichkeiten sowie die Situation, die sich durch die Aussiedlung in der machtpolitischen Sphäre bot, auszunützen. Einerseits erfüllte sie durch deren konseqente Durchführung die national-demokratischen Ziele innerhalb der tschechoslowakischen Gesellschaft, anderseits erfüllte sie auch die internationalen Ziele der proletarischen Revolution.“

Hier wird also ganz unverblümt zugegeben, daß die recht- und besitzlos gewordenen Millionen der politische Sprengstoff zur Erreichung des „Zieles der proletarischen Revolution“ sein sollten. Man hatte also erwartet, daß es durch das Hineinpressen von Millionen Menschen in das kriegszerstörte Deutschland zu einem revolutionären Krisenherd in Mitteleuropa kommen werde.

Wie schließlich das Tauziehen um das Münchner Abkommen ausgehen wird, ist zur Zeit völlig offen. Bundeskanzler Brandt will einen Vertrag mit Prag. Die CSSR ist an einer Regelung ihrer Beziehungen zur BRD aus wirtschaftlichen Gründen brennend interessiert, aber ohne die Zustimmung des Kremls kann sie ihre Forderung nach einer ex-tunc-Nich- tigerklärung des Münchner Abkommens nicht aufgeben. Aber gerade diese Frage könnte für Moskau gegenüber Prag und Bonn ein gewichtiges Faustpfand sein. War die Sowjetunion am Zustandekommen des Münchner Abkommens nicht beteiligt, so hängt es offenbar ausschließlich von ihr ab, wann und wie die Diskussion über München beendet wird.

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