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Seit gut einem halben Jahr wird ein propagandistisches Trommelfeuer um die politischen Gespräche zwischen Prag und Bonn geführt, die letzten der „kritischen Gespräche“, denn künftige mit Budapest und Sofia sind kaum mehr affekt- und problemgeladen. Eigentlich war dieses Trommelfeuer eher einseitig, von tschechischer Seite geführt worden; von deutscher Seite erklärten lediglich Bundeskanzler Brandt und Außenminister Scheel mehrmals, man wolle, sobald die Zeit dies zuließe, selbstverständlich auch mit Prag verhandeln.

Begonnen haben die Prager Deklamationen so richtig am fünfund- zwanzigsten Jahrestag der Befreiung der Tschechoslowakei, als Parteichef Husák vor sowjetischen und ostdeutschen prominenten Gästen etwa folgendes erklärte:

• Die Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anbeginn an wäre nur ein Ausdruck der Gerechtigkeit und des Rechts, auf das die Tschechoslowakei als eines der ersten Opfer der Hitler- Aggression Anspruch hätte. Die Bonner Regierung solle in ihren Versuchen nach halben Lösungen in dieser Frage aufhören.

Ursprünglich hatte Bonn zweifellos Anlaß zu glauben, daß die Verhandlungen mit Prag nicht allzu kompliziert verlaufen würden. Ursache dieser Vermutung war die Tatsache, daß die böhmisch-deutsche Grenze (die einstige österreichisch-deutsche Grenze) sehr zum Unterschied zur deutsch-polnischen Grenze längst keinen Streitfall mehr darstellt. Hinzu kam, daß in das deutsch-sowjetische Abkommen nicht die Prager Formulierung aufgenommen worden war, sondern eine viel weichere, daß „eine für beide Seiten annehmbare Regelung“ getroffen werden solle. Dies aber ergibt für Bonn die Problematik, daß sich aus einer solchen Formulierung weit schwierigere (und vielleicht letztlich nicht ganz über blickbare) Folgerungen als beim Polen-Abkommen ergeben. Demnach wären nämlich die Deutschen Böhmens und Mährens de facto bis 1945 beziehungsweise bis zur Ausweisung tschechoslowakische Staatsbürger verblieben; sie wären samt und sonders Landesverräter, die nicht nur zu Recht enteignet worden wären, sondern auch heute jederzeit vor Gericht gestellt werden könnten, zumal ja das Verjährungsproblem in der CSSR anders als im Westen gelöst wurde. Darüber hinaus hätte die Tschechoslowakei’ eine Legitimation gegenüber den unterschiedlichsten Maßnahmen des Reiches, die nicht nur im „Protektorat“, sondern auch im „Gau Sudetenland“ getroffen wurden. Schließlich würden sich weitere, weit über das deutsch-tschechoslowakische Abkommen hinausreichende völkerrechtliche Folgen ergeben.

Bonn ließ sich informieren

In Anbetracht dieser unübersichtlichen Lage, nahm Bonn, das ähnlich wie zu Warschau keine diplomatischen Beziehungen zu Prag aufrecht erhält, vorerst keine Gespräche auf hoher Ebene wie in Moskau (Botschafter Allardt und Staatssekretär Bahr) oder in Warschau (Staatssekretär von Duckwitz) auf, sondern entsandte Mitte Oktober den Legationsrat Jürgen von Alten lediglich mit dem Auftrag, sich über die Haltung Prags informieren zu lassen. Bei den streng vertraulich geführten Gesprächen soll Altens Gesprächspartner Goezt die Verhandlungsliste in tschechischer Sicht interpretiert haben, ohne dem Münchner Abkommen einen besonderen Schwerpunkt beizumessen. Es bleibt nun vor allem Bonn vorbehalten, sich mit realistischer Phantasie die Folgen einer Ungültigkeitserklärung von Anbeginn an, die bisher auch das so erfahrene Großbritannien als Mitunterzeichner des Münchner Abkommens von einst nicht realisierte, auszumalen.

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