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Entscheidend bleibt die Mitte

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Prophezeite Revolutionen bleiben oft aus. Nicht so im Fall der amerikanischen Halbzeitwahlen. Der seit Watergate vorausgesagte „demokratische Erdrutsch“ ist eingetreten. ~ Präsident Nixons Abdankung hat ihn nicht aufhalten können. ‘Neun der zehn größten Gäit/d »laaten der Union werden künftig von demokratischen Gouverneuren geführt werden. Dief Ausnahme ist Michigan. In der Entscheidung über die Posten der öffentlichen Ankläger der höheren Finanzadministratoren und Bürgermeister zeigten die Wähler, wem sie den Vorzug gaben. Ihre Gunst kam diesmal überwiegend den Kandidaten der demokratischen Partei zugute.

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Prophezeite Revolutionen bleiben oft aus. Nicht so im Fall der amerikanischen Halbzeitwahlen. Der seit Watergate vorausgesagte „demokratische Erdrutsch“ ist eingetreten. ~ Präsident Nixons Abdankung hat ihn nicht aufhalten können. ‘Neun der zehn größten Gäit/d »laaten der Union werden künftig von demokratischen Gouverneuren geführt werden. Dief Ausnahme ist Michigan. In der Entscheidung über die Posten der öffentlichen Ankläger der höheren Finanzadministratoren und Bürgermeister zeigten die Wähler, wem sie den Vorzug gaben. Ihre Gunst kam diesmal überwiegend den Kandidaten der demokratischen Partei zugute.

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Dagegen blieben die Verluste der Republikaner im Senat in „erträglichen Grenzen“ und selbst im Repräsentantenhaus ist ein Verlust für jene Partei, die den Präsidenten stellt und daher die politische Verantwortung trögt, historisch gesehen, nicht ungewöhnlich. Man darf allerdings nicht außer acht lassen, daß der soeben abgewählte Kongreß bereits eine erdrückende demokratische Mehrheit aufwies, und daß die nun eingetretene weitere Verschiebung zu den Demokraten Präsident Fords politisches Leben in den nächsten zwei Jahren äußerst schwierig gestalten wird. Der Präsident war also außerstande, eine Zusammensetzung des Repräsentantenhauses zu verhindern, die sein Veto gegen unerwünschte Gesetzesinitiativen des Kongresses aufheben kann. Zwei Drittel der Abgeordneten können ein Veto auslöschen, doch hängt es natürlich ganz vom Thema und von der gesetzlichen Vorlage ab, ob die Demokraten geschlossen gegen den Präsidenten stimmen werden. In beiden Parteien gibt es bekanntlich Vertreter verschiedener politischer Auffassungen, die jederzeit miteinander koalieren und so unvorhersehbare Mehrheiten herbeiführen können.

Welche Folgerungen kann man aus dieser Wahl ziehen? Zunächst einmal ist die Chance der Demokraten, im Jahr 1976 das Weiße Haus zu- rückzuerobem, erheblich gestiegen. Dafür sprechen nicht hur historische Parallelen. Fast immer hat jene Partei, die in den Halbzeitwahlen überwältigend dominieren konnte, auch den nächsten Präsidenten gestellt. Tausend kleine Bastionen, neu erobert, sind wichtige Stufen auf dem Weg zur Wahl des Präsidenten. Denn eine Präsidentenwahl ist nicht bloß ein Kampf zweier Kandidaten gegeneinander, sie ist ein Kampf um die Kontrolle, um den Einfluß über das Elektorat in allen Phasen des täglichen Lebens.

Sehr entscheidend scheint auch zu sein, daß das Gesicht der meisten, und vor allem der bedeutendsten demokratischen Sieger gemäßigter geworden ist. Es könnte daher jener in der demokratischen Partei endemische Richtungskampf zwischen dem liberalen und dem konservativen Flügel diesmal vermieden werden, und die Partei könnte mit einem gemäßigten Kandidaten in die nächste Präsidentschaftswahl ziehen. Wohl ist der Spaltpilzgouverneur Wallace trotz seiner Lähmung noch sehr aktiv und erfolgreich, aber ein gemäßigter Kandidat könnte ihm viel Wind aus den Segeln nehmen, und jedenfalls scheint ein Extremistenabenteuer ä la McGovern gebannt zu sein.

Mit neuen Gesichtem, wie jenem des Astronauten Glenn, der mit gewaltiger Mehrheit als Vertreter Ohios in den neuen Senat einzieht, mit überwältigenden Siegern, wie dem neuen Gouverneur von New York, Caray, der die von Rockefeller über eine Dekade kontrollierte Verwaltung in Albany übernimmt, mit Frauengestalten, wie der neuen „Governess“ von Conneticut, Grosso, oder schließlich mit dem Reagan- Nachfolger Brown in Kalifornien besitzen die Demokraten nun Persönlichkeiten, die in den USA die politische Szene lange Zeit beherrschen dürften.

Freilich darf nicht übersehen werden, daß dieser demokratische Erdrutsch bei einer Wahlbeteiligung von nur 38 Prozent der Wahlberechtigten erzielt wurde. Eine so geringe Wahlbeteiligung in einer der „jüngeren“ europäischen Demokratien würde wohl eine milde Verwarnung von seiten der amerikanischen Patentdemokraten auslösen. Republikanische Wähler blieben also in

Massen zu Hause, und andere waren vom ganzen politischen Szenarium so vergraust, daß sie ihren Unwillen durch Fernbleiben von der Wahlurne bekundeten. Bezeichnend ist auch, daß in verstärktem Maß „Nichtpolitiker“ gewählt wurden. So der schon genannte Astronaut Glenn oder ein völlig unbekannter Versicherungsagent namens Langley, der sowohl den Kandidaten der Demokraten als auch jenen der Republikaner um den Gouverneursposten von Maine schlug.

Welches waren nun die Hauptanliegen der Wähler?

Zunächst wohl noch eine Abrechnung mit Watergate — wofür als Beweis die Niederlage vieler Abgeordneter angeführt wird, die gegen das Impeachment Nixons im Justizausschuß gestimmt haben. Dann aber vor allem die wirtschaftliche Unsicherheit, wobei dem Präsidenten vor allem Führungsqualitäten abgesprochen werden. Je näher wir dem Winter kommen, desto stärker wird die Furcht vor einer Rezession, während im gleichen Maß die Angst vor der Inflation abzunehmen scheint. Es hat den Anschein, als ob jene Kandidaten, die den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit über den Kampf gegen die Inflation stellten, den Sieg davongetragen hätten.

Präsident Ford hat die letzten beiden Wochen auf dem politischen Kriegspfad zugebracht und für republikanische Kandidaten in den heißumstrittenen Brennpunkten gekämpft. Noch am Wahlabend, als sich das Ausmaß der Niederlage abzuzeichnen begann, ließ er eine Erklärung verlesen, in der er dem neuen Kongreß wohl seine Hand zur Zusammenarbeit entgegenstreckte, zugleich aber die Verantwortung für die wirtschaftliche Zukunft den von Demokraten dominierten parlamentarischen Körperschaften zuschob. Ford hat sich damit schon jetzt ein Alibi für die wohl unausbleiblichen wirtschaftlichen Rückschläge konstruiert. Er hat verstanden, daß das Elektorat demokratisch wählte, damit „etwas passiere“. Die Führung der Nation liegt jedoch niemals bei den von Parteien beherrschten parlamentarischen Körperschaften, sondern bei der Exekutive, im Weißen Haus. Eine Pattstellung in Fragen Lohn- und Preiskontrollen, Budgetkürzung und soziale Leistungen ist unvermeidlich. Ford hofft, daß die Wähler das nächste Mal die Demokraten bestrafen werden.

Das erfreulichste Resultat dieser Wahl scheint jedoch zu sein, daß trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten ein massiver Ruck nach links nicht festzustellen war. Wohl sind liberale Kandidaten, wie McGovern oder sein berüchtigter Campaign- Manager Hart, zu Senatoren gewählt worden. Aber ein offener Liberaler, wie Ramsey Clark, der Politik mit den amerikanischen Kriegsgefangenen in Vietnam machen wollte, wurde in New York vom Champion der jüdischen Anliegen, Javits, besiegt, und wenn man McGovern oder Hart jetzt zuhörte, würde man nicht glauben, daß sie es waren, die Nixon 1972 mit einem fast marxistischen Vokabularium bekriegten.

Weiterhin dürfte daher der politische Kampf in den USA um die „Mitte“ gehen, und wer sich hier am glaubwürdigsten mit der Masse der Wähler, die immer noch im Zentrum verankert ist, identifiziert, der wird schließlich auch 1976 gewählt werden.

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