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Mit Kennedy ins 20. Jahrhundert

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Die große Wahlschlacht im Westen ist geschlagen: Als 35. Präsident der Vereinigten Staaten wird John Fitzgerald Kennedy im Jänner 1961 in das Weiße Haus in Washington einziehen. Mit dem knappen, aber eindeutigen Sieg Kennedys ist nicht nur die Präsidentschaft Eisenhower zu Ende gegangen. Auch der Triumph des Esels — er ist bekanntlich das Wappentier der Demokraten — über den acht Jahre herrschenden republikanischen Elefanten ist nur das Vordergründige an diesem Ereignis. In der Nacht vom 8. zum 9. November wurde mehr als ein Präsident der Vereinigten Staaten durch einen anderen abgelöst, die Administration einer durch die einer anderen Partei ersetzt. Eine Ära nähert sich ihrem Ende, eine neue kündet sich an. Und das nicht nur in den Vereinigten Staaten. Noch ist es unmöglich, den großen Wechsel in Washington in seinen letzten Auswirkungen klar zu erkennen, allein die allgemeine Richtung deutet sich an.

Da ist einmal das historisch Phänomen, daß sich die Türen des Weißen Hauses das erste Mal vor einem Katholiken öffnen werden. Grund zur Genugtuung für alle, die sich mit dem neuen Präsidenten in demselben Glauben verbunden wissen. Doppelter Grund, weil bekanntlich in Europa die so oft vor Wahlen ausgegebene Parole: „Katholiken, wählt Katholiken!“ in den Vereinigten Staaten nicht verbreitet wurde. Es gab sogar katholische Kreise, einflußreiche Kreise, die offen ihre größeren Sympathien für den Gegenspieler des neuen Präsidenten als Vertreter des Gesetzes der „Beharrung“ bekundeten. Darüber hinaus ist der Erfolg des Katholiken Kennedy ein Durchbruch durch die unsichtbare Scheidemauer, die vergangene Jahrhunderte allen papierenen Grundrechten zum Trotz für ,.Papisten“ und „andere Minderrassige“ vor dem Weißen Haus aufgerichtet haben. Das 20. Jahrhundert hat hier inmitten der Vereinigten Staaten einen späten Sieg errungen. Die Völker der

Erde, insbesondere die der erwachenden Kontinente werden dieses von Washington ausgehende Signal zu hören wissen.

Der Sieg Kennedys spricht nicht nur den Katholiken an, er darf auch von den wirklichen Demokraten aller Länder und Lager begrüßt werden. Hat uns nicht alle in den letzten Jahren mitunter das bange Gefühl beschlichen, daß es auch in der Welt, die sich die freie nennt, immer schwerer, ja vielleicht eines Tages unmöglich wird, eine herrschende, über allen staatlichen Machtmitteln und Propagandamitteln verfügende Partei mit dem Stimmzettel zum Verlassen ihrer Positionen zu bewegen? Das aber ist am 8. November in den Vereinigten Staaten geschehen. Die Republikaner gehen — um nach Jahren wieder zu kommen. Das demokratische Spiel des Wechsels funktioniert noch. Es braucht keines „Pronunciamento“ und keiner „Säuberung“.

Der Sieg Kennedys ist über all das hinau? eine Ermunterung für alle Kräfte in der freien Welt, die mit der Erreichung eines gewissen Wohlstandes noch nicht das Ziel der Geschichte erreicht sehen, und denen die Formel: „Keine Experimente!“ nicht der politischen Weisheit letzter Schluß erscheint. Nichts gegen Nixon! Aber er wurde in den letzten Monaten und

Wochen immer mehr zur Verkörperung jener nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkten Geisteshaltung, die den Zeitgenossen mit dem Slogan: „Ihr habt es nie so gut gehabt!“ einschläfert und letzten Endes für die kommenden großen Auseinandersetzungen — geistige Auseinandersetzungen die höchste Anspannung erfordern werden - untauglich machen muß. Wie Mehltau lagerte sich diese Mentalität immer stärker über alles und jedes, wo sich frisches Grün auch nur zu regen begann. Sattheit und Trägheit breiteten sich aus. Geistfeindschaft gesellte sich hinzu. Das Ende mußte einem bange machen.

Nun aber ist der Wind im Westen umgesprungen. Kennedy lullte seine Wähler keineswegs ein. Er schmeichelte ihnen auch nicht. Im Gegenteil. Er forderte die Amerikaner auf, mit ihm an die „neue Grenze“ zu ziehen. Er appellierte an den alten Grenzergeist des Wagnisses und der täglichen Bewährung. Die nachrückende Generation nahm die Parole auf.

Es war ein Sieg der Jungen. Während man in Europa vielfach nach der Maxime „Wer die Alten hat, hat die Zukunft!“ Politik treibt — indem man zum Beispiel die an sich notwendige Regulierung der Renten zum zentralen politischen Problem macht —, stellte im fernen

Westen ein Politiker seine Sache auf die Stimmen der Wähler unter Fünfzig — und ging durchs Ziel.

Dia Wahl Kennedys ist nicht zuletzt der sichtbare Ausdruck der Wachablöse der Generationen, die sich vor unseren Augen vollzieht. Vor unseren Augen? Das ist zuwenig. Mit oder gegen uns! Das Jahrzehnt der großen, weisen alten Männer, unter deren Schutz sich die vom Krieg Versehrten Massen am sichersten wähnten, geht mit dem Abschied des siebzigjährigen Generals des zweiten Weltkrieges, Eisenhower, zu Ende. Mit dem 1917 geborenen John F. Kennedy tritt jene Generation, denen der zweite Weltkrieg „die schönsten Jahre ihres Lebens“ nahm, aus dem Dunkel an die Schalthebel. Hat man von Eisenhower immer beteuert, daß er, der als General den Krieg kenne, den Frieden sichern werde, so muß man dasselbe wohl von einem Mann erwarten, der nicht nur den Krieg von einem Hauptquartier aus kennt, sondern der die Narben desselben auf seinem Körper trägt.

Der Wind ist im Westen umgesprungen. Politische Jugend beginnt nicht mehr mit fünfzig Jahren und Intellekt ist künftighin nicht mehr ein Ausschließungsgrund im öffentlichen Leben. Ein tiefgreifender Stilwandel kündet sich an.

Von Amerika nach Europa ist ein gutes Stück. Von dort nach Österreich, das unter dem besonderen Gesetz deri historischen „Verspätung“ steht, vielleicht noch weiter. Es kann jedoch schon heute gesagt werden, daß die Wellen, die der amerikanische Wahlkampf geschlagen, auch die Küste unseres alten Kontinents erreichen werden. Das 20. Jahrhundert bricht sich mit seinen Kindern und durch sie über alle Versuche, die Uhr anzuhalten. Bahn. Wo immer man dies erkennt, wird man — so wie Kennedy — eine Wahl gewinnen Mehr als eine Wahl: Die Zukunft.

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