Herzl und die Verantwortung der Christen

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Zunächst traten Juden wie Theodor Herzl oder der 14 Jahre jüngere Arnold Schönberg für Assimilation ein: Würden sich die Juden taufen lassen, würde der Antisemitismus verschwinden. Eine völlig falsche Hoffnung.

Ein Wiener Platz wird nach Theodor Herzl benannt, zu seinem 100. Todestag. Die palästinensische Gemeinde protestiert. Im Festsaal des Wiener Rathauses wird Herzl als Visionär gewürdigt. In U-Bahn-Stationen kleben Plakate mit Herzl-Texten, die keineswegs menschenfreundlich klingen. Dies und jenes wird zitiert, die Idee von damals mit der Politik von heute vermischt. Das schier unlösbare Nahostproblem wirft seine Schatten. Die Hintergründe drohen wieder einmal im Dunkeln zu bleiben.

Es ist viel zu wenig bekannt, dass Theodor Herzl in einer frühen Phase für die totale Assimilation der Juden eintrat. Wenn sich alle taufen lassen, würde der Antisemitismus verschwinden. Wie sehr er sich getäuscht hatte, wurde ihm endlich durch die Dreyfus-Affäre voll bewusst, über die er für die Neue Freie Presse aus Paris berichtete. Damals, zu Ende des 19. Jahrhunderts, hatten die Kirchen noch starken Einfluss in der österreichisch-ungarischen Gesellschaft. Und doch dauerte es noch ein halbes Jahrhundert und bedurfte der Katastrophe der Schoa, dass die Kirchen anfingen, die aggressive Tradition ihres Antijudaismus, der dann auch säkularen Europäern zum Wurzelboden des Antisemitismus werden konnte, ins Auge zu fassen und zu bearbeiten. Klare Worte, die eine christliche Judenfeindschaft als eminent unchristlich gebrandmarkt hätten, fehlten um die vorletzte Jahrhundertwende.

Schönbergs Erfahrungen

Stationen der Erfahrung, die diesen Weg markierten, lassen sich an einzelnen Biographien nachzeichnen. Der Wiener Arnold Schönberg (1874-1951), ein assimilierter Jude wie Herzl, hat 20 Jahre nach Herzl eigenständig eine vergleichbare Wende erlebt. Wie Herzl die Taufe zunächst als den einzigen Weg sah, um weiteren Diffamierungen und Verfolgungen zu entgehen, tat auch Schönberg alles, um als Bürger und Künstler anerkannt zu werden. Mit 24 Jahren ließ er sich in der lutherischen Kirche taufen. Aber schon zu Ende seines Militärdiensts im Ersten Weltkrieg zweifelt Schönberg am Erfolg der Assimilation. In seinen Notizen "Jeder junge Jude" von 1934 spricht er von "unserer unglücklichen Liebe" zum Gastvolk, die zum falschen Weg der Assimilation verleitet habe, "um den Ungleichen zu bewegen, dass er unsere Ungleichheit übersehe". Schon hatte sich die rassistische Propaganda des Ritters von Schönerer durchgesetzt: "Was der Jude glaubt, ist einerlei." Die Diskriminierung war voll rassistisch geworden, ohne dass sie auf vehementen christlichen Widerspruch gestoßen wäre.

Diesen "Schiffbruch der Assimilierungsbestrebungen" haben alle Juden erlebt. Sie haben die Erfahrung machen müssen, dass ihre Anstrengung, Leistungen in Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft zu erbringen, damit zur europäischen Kultur beizutragen und dafür gewürdigt zu werden, im Gegenteil zum Anlass für Verfolgungen genommen wurden. Schönberg erwähnt zwei Erlebnisse, die für ihn einen nachhaltigen Schock bedeuteten. Als er 1921 mit seiner Familie zum Urlaub nach Mattsee fuhr, wurde ihm mitgeteilt, dass auf Grund eines Beschlusses des Gemeinderats Juden unerwünscht seien. Er reiste am nächsten Tag ab.

Schönberg komponierte nicht nur, er war auch Maler (seine Bilder sind übrigens derzeit im Egon-Schiele-Art-Zentrum in Krumau/ ÇCesk´y Krumlov zu sehen). Sein Freund Wassily Kandinsky wollte ihn zur Mitarbeit im Bauhaus gewinnen, wo sich bereits eine antisemitische Haltung breit gemacht hatte. 1923 schreibt er an Kandinsky: "Was ich im letzten Jahr zu lernen erzwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert, und werde es nicht wieder vergessen. Dass ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin, sondern dass ich Jude bin." Kandinsky hatte sich zur Äußerung hinreißen lassen, er schätze Schönberg als Künstler, lehne ihn aber als Juden ab. Und Schönberg kontert prophetisch: "Wie kann ein Kandinsky ... es unterlassen, eine Weltanschauung zu bekämpfen, deren Ziel Bartholomäusnächte sind!"

Glaube wurde bedeutsam

Das sind Erfahrungen einer ganzen Generation. 1926 erklärte Sigmund Freud: "Ich hielt mich geistig für einen Deutschen, bis ich das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland und Österreich bemerkte. Seitdem ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen."

Schönberg ist 1933 in Paris kurz vor der Emigration in die USA zum jüdischen Glauben zurückgekehrt. Aber noch mehr: Sein Theaterstück "Der biblische Weg" (aus dem später die unvollendete Oper "Moses und Aaron" entstand) wurde zu einem bewussten Propagandastück für einen Judenstaat. In den ersten Entwürfen hat die Hauptfigur "M" (Moses) durchaus die Konturen von Theodor Herzl, der die Juden, dem biblischen Exodus gleich, aus der Gefangenschaft führt. Der Glaube wurde Schönberg wieder bedeutsam, der "Gedanke des einzigen, ewigen, unsichtbaren und unvorstellbaren Gottes".

Fragen an die Christen

Angesichts solcher biografischer Umwälzungen könnten sich die christlichen Kirchen zunächst fragen, was sie denn von ihrer eigenen Taufe gehalten haben, die doch laut Paulus im Galaterbrief den Unterschied zwischen Juden, Griechen und Heiden, zwischen Mann und Frau aufhebt? Musste sie erst die jüdische Bekehrung zum "einzigen, unsichtbaren und unvorstellbaren Gott" daran erinnern, dass der deus absconditus auch in der Tradition der christlichen Theologie ein unverzichtbares Korrektiv darstellt, um die Vereinnahmung Gottes für ideologische und politische Interessen hintan zu halten?

Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat in seinen Tübinger Vorlesungen von 2002 den israelisch-arabischen Konflikt als einen Konflikt zweier Opfer dargestellt: "Europa, das die arabische Welt kolonisiert hat, sie ausgebeutet und gedemütigt hat, ... ist dasselbe Europa, das die Juden diskriminiert hat, sie verfolgt und gejagt hat und schließlich einen Massenmord an ihnen begangen hat." Herzls Idee war aus der Notwehr geboren und hat Europa veranlasst, sich des Problems durch Auslagerung zu entledigen. Dieses Europa war durch Jahrhunderte angeblich christlich, aber die Christen wollten ihre jüdischen Wurzeln nicht wahrhaben.

Die fatalen Folgen dieser Haltung ziehen sich schrecklich durch die Geschichte. Jahrhunderte des Antijudaismus, verweigerte Assimilation, Geringschätzung der Taufe - was christliche Verantwortungslosigkeit angerichtet hat, lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen, aber beenden. Heute kann für die Christen nur ein aufrichtiges Gespräch mit den Juden den Antisemitismus von seiner christlichen Legitimation abschneiden, um die Gleichheit der Menschen ungleichen Glaubens an den gleichen Gott zu bekennen.

Die Autorin ist Vorstand des Instituts für Praktische Theologie und Religionspsychologie an der Evang.-Theol. Fakultät in Wien. Auszug aus S. Heines Statement beim diesjährigen Herzl-Symposion in Wien.

Meister des Feuilletons

Als politischer Visionär ist Theodor Herzl anlässlich des 100. Todestages publizistisch präsent. Herzls Brotberuf kommt dabei bei weitem nicht vergleichbare Aufmerksamkeit zu. Dabei wäre seiner Sprachkraft als Journalist bzw. Feuilletonist (vor allem der Neuen Freien Presse) auch heutzutage Anerkennung zu zollen. Marcus G. Patka hat im Auftrag des Jüdischen Museums Wien und der Israelitischen Kultusgemeinde 13 Herzl-Feuilletons zu den Themen Technik bzw. Reisen herausgebracht: Es ist ein lohnendes Unterfangen, in diesen literarischen Kleinformen zu schmökern und darüber zu staunen, wie Herzl etwa das Sterben der Fiaker und - fast prophetisch - den Siegeszug des Automobils beschreibt oder sich über die Biografie von US-Präsident Theodore Roosevelt auslässt. ofri

DIE TREIBENDE KRAFT. Feuilletons. Von Theodor Herzl. Hg. Marcus G. Patka. Picus Verlag, Wien 2004. 144 Seiten, geb., e 16,90

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