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T. P. vom ORF zu Dr. Otto Habsburg: „Herr Doktor Habsburg, sind Sie ein Phantast?“

Dr. Otto Habsburg zu T. P. vom ORF: „Wer immer sich mit Politik beschäftigt, bedarf der Phantasie.“

Theodor Herzl 1895: „Mit Einfachem und Phantastischem führt man die Menschen.“

Es ist eine müßige Frage, ob der Staat Israel in allen Einzelheiten der Vision entspricht, die Theodor Herzl einst von Zion hatte. Jeder Gedanke, der zur Tat wird, unterliegt der Verwandlung, doch gibt es keine politische Tat ohne vorangegangene Vision, mag diese auch, wie ein Lavaerguß, aus mehreren Schichten bestehen, die einander überlagern, die aber dennoch ein Ganzes bilden, kommen sie doch aus der gleichen Tiefe.

Alle diese Schichten durchforscht und aufgedeckt zu haben, ist ein Verdienst der Herzl-Biographie Alex Beins, die 1934 erschien und die nun, 1974, von der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft als Reprint herausgegeben wurde. Das Werk entstand also unmittelbar vor jener nationalen Katastrophe der Juden, deren Einzelheiten und deren Ausmaß zu ungeheuerlich sind, als daß menschlicher Verstand sie noch zu fassen vermöchte, die auch alles übertraf, was Herzl zu ahnen glaubte, eben dadurch aber die Verwirklichung der zionistischen Vision erzwang und den Staat Israel ein für allemal ins Leben rief. Es gab Zionismus vor Herzl und es gibt Zionismus nach ihm, aber nur dem Charisma dieses einen großen politischen Sehers war es gegeben, stattsgrün-dender Mythos zu werden, auf dem die Wirklichkeit aufbauen konnte und an dem sie sich auch in kommenden Zeiten wird orientieren können.

Herzl hatte nämlich erkannt, daß Verschiedenheit nicht von Übel, sondern ein Wert ist. Sie leugnen bedeutet, ebenso wie religiöse und nationalistische Intoleranz, nichts anderes als den hybriden Versuch, den Schöpfergott zu korrigieren, die unüberschaubare Vielfalt der Schöpfung zu einer für kleine Geister überschaubaren Uniformität einzuebenen. Unblutig das eine, blutig das andere — beides zielt auf Vernichtung. Wobei im Schicksal der Juden die Blutschuld der Verfolger eben am deutlichsten zutage trat, nicht erst jüngst, in ihrer äußersten, unvorstellbaren Konsequenz, sondern seit vielen Jahrhunderten. Was Christen verschiedener Konfessionen einander antaten, was Christen insgesamt mit Mohammedanern ausfochten, die einen den anderen an Intoleranz und Machtmitteln ebenbürtig, das läßt sich abschließend immerhin kompensieren, das gestattet einen Bilanzstrich, ein Ende heute und einen neuen Anfang morgen. Nur die Juden vermochten bislang gegen Unterdrückung, Austreibung und Tod nichts aufzurechnen, es sei denn ein wenig Märtyrerstolz, ein wenig Berührungsscheu, wie sie alten Rassen eigen ist, ein wenig überlegene Schläue und abgründige Verzweiflung, viel Zorn und das Pochen auf ihr Erstgeburtsrecht unter den monotheistischen Religionen.

Und das ist zuwenig. Die Waage neigt sich schwer und einseitig zugunsten der Juden. Nur scheinbar ist Europa von Israel getrennt. Eine unsichtbare Kette alter Schuld verbindet est wie seine amerikanischen Abkömmlinge, für alle Zeit mit jenem schmalen Streifen Land, auf dem das Christentum seinen Anfang nahm und das heute wieder jene beherbergt, deren Vorfahren ohne ernste Gegenwehr von Christen verfolgt wurden. Dort in Israel geschah auch das Unglaubliche, dennoch von Herzl wider allen Anschein Vorausgesehene, daß die durch Aussonderung und Verachtung von uns seelisch Verkrüppelten kaum, daß sie den Boden berührt hatten, von dem sie ausgegangen waren, in der zweiten und dritten Generation wieder zu wehrhaften Siedlern alttestamentarischen Stils wurden, hartnäckig, klug, rechthaberisch, leistungsfähig bis zum Äußersten und nicht selten ein Schrecken ihrer Feinde.

Nicht Einebnung und Uniformität nach amerikanischem und sowjetrussischem Vorbild ist also die Lösung der „Judenfrage“, sondern die Anerkennung der Verschiedenheit als eines unersetzlichen Wertes und als der Vorraussetzung für ein vorbehaltloses Miteinander Europa-Amerikas und Israels in gegenseitiger Ergänzung. Aber auch Europa selbst vermag seine Seele nur zu retten, wenn es verwirklicht, was Österreich-Ungarn einst in vielen Ansätzen versucht hat: nicht nur den großen Völkern und staatlichen Gebilden Heimstatt zu sein, sondern auch allen Stämmen, allen religiösen, sprachlichen und rassischen Minderheiten, ungeachtet ihrer Zahl und ihres Gewichts, auch den Kleinsten gleiche Möglichkeilen zu bieten wie den Mehrheiten und Vielfalt nicht als Schwächung, sondern als Bereicherung zu verstehen. Westeuropäischer Zentralismus bildet auf diesem Wege ebenso ein Hindernis wie die „Urangst“ der deutschsprachigen Mehrheit in Kärnten, Antisemitismus ebenso wie der Brotneid gegenüber südeuropäischen Gastarbeitern. Und wie die internationale Hetze gegen Portugals Versuch einer überrassischen Gemeinschaft.

Phantasterei? Es ist von keiner geringen Bedeutung, daß Alex Beins Herzl-Biographie in Österreich neu herausgegeben wurde, gerade in diesem unserem Land, in dem das Wollen nun schon seit Generationen krank darniederliegt, das seine Herzensträgheit hinter billigen Witzeleien und seine Zaghaftigkeit hinter arroganter Skepsis verbirgt. „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, rief Herzl den Juden zu. Sie wollten, die Vision wurde Wirklichkeit.

Und jeder kann wollen. Auch der Österreicher.

THEODOR HERZL. Von Alex Bein. Reprint der 1934 erschienenen Erstausgabe, mit einem Vorwort von Golda Meir, 1974, im Selbstverlag der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft. 739 Seiten.

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