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Der große Hasser

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Karl Kraus wurde im böhmischen Landstädtchen Jitschin geboren, vier Jahre später wurde er durch Ubersiedlung ein „Wiener“. Aus der jüdischen Gemeinde trat er am 12. Oktober 1899 aus, von seiner jüdischen Familie distanzierte er sich bereits nach dem Tode seines Vaters Jakob, dessen Vermögen es dem Sohn ermöglichte, ein unabhängiger Zeitschriftenherausgeber zu werden. Jüdischen Familiensinn hatte er überhaupt nicht, er betrachtete Familienbande als „Bande“, und viele Freundschaftsverbindungen verwandelten sich bei ihm in Haß. Er vergab nicht und vergaß nicht, die Idee eines Versöhnungsfestes blieb ihm fremd.

Viele seiner besten Freunde waren Juden, sie wurden dann auch die bestgehaßtesten Feinde: nur Felix Saiten und Franz Werfel seien als Beispiele genannt. Konkurrenten wie Alfred Kerr konnte er nicht vertragen Der Mann, der jüdisch aussah, ging in seinem jüdischen Selbsthaß so weit, daß er diejenigen, die fern vom Prager Getto wie Franz Werfel in die deutsche Literatur und in die Weltliteratur Eingang gefunden hatten, durch mauschelige Nachahmung unmöglich machen wollte. Diese rächten sich — wie Max Brod als Kulrturreferent des „Prager Tag-blatts“ —, indem sie ihn ignorierten. Der Totgeschwiegene, der sich gegen Ohrfeigen politischer Gegner mit Prozessen wehrte, suchte durch Vorträge eine treue Gefolgschaft zu erwerben Das gelang ihm nicht nur durch Operettenvorträge, sondern vor allem durch sein prophetisches Buch „Die letzten Tage der Menschheit“. In vielen wichtigen Dingen und Menschen hat er sich geirrt: bei Theodor Herzl, Dr. Dollfuß, bei den Sozialdemokraten und anderen. Er vertrieb Hans Habes Vater Bekessy aus Wien, bei Dr. Schober gelang ihm dies nicht. In seinem Haß gegen Juden hat er Antisemiten viel Schußmaterial geliefert, zu Hitler fiel ihm nichts mehr ein.

Dem Haß stand keine Liebe gegenüber, sondern nur kalte Begeisterung. Er lebte unter Literaten und Hebte in Adelskreisen. Deren Schlösser blieben ihm nicht verschlossen wie Kafkas Helden. Er verkehrte in Kuchelna bei der Fürstin Lichnowsky und bei Baronin Sidonie Nädhemy von Borotin in Vrchotovy Janovice. Dort — unweit vom böhmischen Schloß KonopiSte des Erzherzogs Ferdinand d'Este — wäre er gerne Schloßherr geworden, aber Sidonie hatte bereits an einer verunglückten Ehe genug, und ihr Dichterfreund Rainer Maria Rilke hatte es leicht, ihr die Verbindung mit Karl Kraus auszureden bzw. in Briefen so überzeugend zu sein (diese Briefe sind jetzt veröffentlicht worden), daß das Projekt fallengelassen wurde.

„Das Phänomen Karl Kraus ist kein Beispiel der Überkompensation, sondern ein faszinierendes Kapitel in der Psychopathologie des Genies“, so sagt einer seiner Biographen. Karl Kraus war letzten Endes ein verhinderter Schauspieler, der es als Schock hinnehmen mußte, daß ein anderer Wiener Schauspieler, Max Reinhardt, der mit ihm in Schillers „Räubern“ debütierte, es in der Theaterwelt so weit gebracht hatte.

Über Karl Kraus wurden viele Bücher geschrieben, und es werden zu seinem 100. Geburtstag Hunderte von Artikeln mit mehr oder weniger Begeisterung verfaßt werden. Aber etwas sollte nicht vergessen werden und wird wohl kaum zu lesen sein: Auch wenn zu Herzls Zeiten viele gute Juden, die sich in ihrem Assimilationsbestreben integriert hatten, gegen den Zionismus waren, so gab es niemanden aus jüdischer Familie, der so gehässig und aggressiv gegen den zionistischen Gedanken geschrieben und polemisiert hat (Eine Krone für Zion!). Auch hier sieht man seine Unduldsamkeit gegen einen Zeitungskollegen, der mit Erfolg auftrat. Heute würde bei einem Rückblick auf sein Leben selbst Karl Kraus eingestehen müssen, daß er in dieser Sache kein Prophet war. Hunderttausende haben ihr Leben in Palästina gerettet, und für fast drei Millionen ist es eine neue Heimat geworden, für Millionen, denen Recht auf ein freies Leben wichtiger ist als jedwede „demolierte Literatur“ in einem Wiener Kaffeehaus.

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