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Odyssee der Manuskripte

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Nicht weniger als 366 Objekte umfaßt die Karl-Kraus-Aus-stellung der Wiener Stadtbibliothek, die nur noch wenige Tage von 10 bis 19 Uhr im Musikverein zu sehen ist. Fast im Alleingang hat Dr. Paul Schick diese einzigartige Schau zusammengestellt und wissenschaftlich betreut. Neben der großen Bruckner-Ausstellung in der Nationalbibliothek und der Schönberg-Ausstellung in der Secession zählt diese Schau zu den wichtigsten künstlerischen und kulturpolitischen Manifestationen der Wiener Festwochen 1974.

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Nicht weniger als 366 Objekte umfaßt die Karl-Kraus-Aus-stellung der Wiener Stadtbibliothek, die nur noch wenige Tage von 10 bis 19 Uhr im Musikverein zu sehen ist. Fast im Alleingang hat Dr. Paul Schick diese einzigartige Schau zusammengestellt und wissenschaftlich betreut. Neben der großen Bruckner-Ausstellung in der Nationalbibliothek und der Schönberg-Ausstellung in der Secession zählt diese Schau zu den wichtigsten künstlerischen und kulturpolitischen Manifestationen der Wiener Festwochen 1974.

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Noch bei Lebzeiten von Karl Kraus und mit seinem Wissen begann Helene Kann alle Manuskripte und Korrekturbögen der schon gedruckten „Fackel“-Nummern wie auch der außerhalb der „Fackel“ erschienenen Werke (Essaybände, Dramen, Gedichtsammlungen, Nestroy-, Shakespeare- und Offenbach-Bearbeitungen) zu archivieren. Außerdem wurde eine Sammlung von Zeitungsausschnitten angelegt, anfänglich, um Karl Kraus mit Unterlagen für seine

Polemiken zu versorgen, später, um alle Äußerungen über den in Wien „totgeschwiegenen“ Dichter festzuhalten.

Nach dem Tod von Karl Kraus wurde das Archiv, gemäß seinem letzten Willen, durch die Papiere, die sich in der Wohnung des verstorbenen Schriftstellers befanden, ergänzt. So wurden unzählige Notizen, unveröffentlichte Manuskripte, Vor-lesungsexemplare, persönliche Dokumente, Prozeßakten und die umfangreiche Korrespondenz von Karl Kraus in die Wohnung von Helene Kann übergeführt, wo sich von Anfang an das Archiv befunden hatte. Die Umstände der Übersiedlung, die Frau Kann seinerzeit selber bemängelte, führten dazu, daß dieses wertvolle Material in vollständige Unordnung geriet. Da es später oberflächlich und vor allem unsachgemäß gesichtet wurde, kam es zu falschen Einreihungen, und mancher Korrespondent von Karl Kraus konnte nicht mehr ermittelt werden.

Die Manuskripte von Karl Kraus wurden mehr aus Pietät als unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für die zukünftige Forschung aufgehoben, und Helene Kann hat auch einigen Freunden, Verwandten und Verehrern von Karl Kraus verschiedene Schriftstücke als Andenken ge-

schenkt. Leider haben das manche mit der Zeit als eine gewisse Kapitalsanlage angesehen. So gingen viele wichtige Manuskripte verloren oder wurden zum Handelsobjekt. Dies schmälert nicht das Verdienst Helene Kanns, die doch das meiste aufbewahrt und für die Zukunft gerettet hat.

Im Frühling 1937 wurde ungefähr ein Drittel des Archivs der österreichischen Nationalbibliothek übergeben, wo es heute noch unbearbeitet im Magazin aufbewahrt wird. Der Rest des Archivs wurde schon nach der Besetzung Österreichs in die Schweiz, wohin Helene Kann geflohen war, durch Anita Köstler expediert.

Nach dem mit „Mein Testament“ überschriebenen Dokument, das jedoch nur als Kodizill angesehen werden kann, bestimmte Karl Kraus, daß alle seine Dokumente zusammen mit dem Archiv in den Besitz von Helene Kann übergehen und nach ihrem Ableben entweder einer dritten Person oder einer Institution (ausdrücklich wurde nur die Stadt Wien genannt) zufallen sollten. Nach dem Kriege äußerte Frau Kann mehrmals den Wunsch, das Archiv der Stadt Wien zu übergeben, schenkte auch einige Manuskripte der Stadtbibliothek, ohne jedoch in ihrem Testament ausdrücklich darüber zu verfügen, und so blieb nach ihrem Tode 1949 das Archiv im Besitz ihrer Tochter Eva Röder.

1951 übergab Frau Anita Köstler jenen Teil des Archivs, den sie nach Schweden hinübergerettet hatte. Im selben Jahr unternahm der Bibliothekar Dr. Paul Schick, der sich schon damals der Karl-Kraus-For-schung verschrieben hatte, gestützt auf das Original des letzten Willens von Karl Kraus, den ersten Versuch, Frau Röder zur Ubergabe des Archivs an die Wiener Stadtbibliothek zu bewegen. Schließlich wurde das Archiv dank der Vermittlung des Herrn Marcel Faust im Jänner 1955 von Eva Röder der Wiener Stadtbibliothek geschenkt.

Die genaue Einordnung des Materials erwies sich als sehr schwierig, da die Aufschriften auf den Paketen icht immer mit dem Inhalt übereinstimmten. Auch befanden sich viele Manuskriptblätter in desolatem Zustand (verklebt, zerknüllt, manchmal zerfetzt), und man mußte sie auf eine feste Unterlage kleben, um sie derart vor gänzlicher Zerstörung zu bewahren.

Es gab dabei etliche unerwartete Funde: Bei der Öffnung eines Päckchens mit der Aufschrift „Kriegsglossen ungeordnet“, in dem sich zumeist Glossen aus der Zeit der Balkankriege befanden, stellte man fest, daß als Packpapier das vollständige Material zur ersten Aufführung der „Büchse der Pandora“ von Wede-

lesungsprogramme fand man Weisungen an den Verlag, viele wichtige Briefentwürfe und beinahe die ganze Korrespondenz mit Autoren der „Fackel“ aus den Jahren 1908 bis 1910. Gerade diese scheinbar unwichtigen Zettel erwiesen sich als besonders aufschlußreich für die Stellung von Karl Kraus zu den Anfängen des „Sturm“, zu Herwarth Waiden und manchem anderen deutschen und österreichischen Autor dieser Zeit. Dank diesem Material ließ sich ein Konzept des Briefes an Hein-

rieh Mann aus dem Jahre 1910 erst identifizieren.

Unter dem Wust der Notizen, deren Entzifferung besonders schwierig war, fand man unveröffentlichte Szenen aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ und aus „Literatur, oder: Man wird doch da sehn“. Unter den Korrekturbögen der „Letzten Tage der Menschheit“ fand sich auch die von Karl Kraus vollständig umgearbeitete Bühnenfassung des Dramas, die er 1930 an zwei Abenden vorgelesen hatte.

Das Archiv — bereichert durch weitere Erwerbungen und Schenkungen sowie durch den von Prof. Jaray zusammengestellten „Fackel“-Index und den „Karl-Kraus-Tonfilm“ — enthält nicht nur eine vollständige Dokumentation über Karl Kraus* Leben und Wirken, nicht nur reichhaltiges Material, das uns erlaubt,

seine schöpferische Arbeit von der ersten gekritzelten Notiz bis zur letzten korrigierten Druckfahne zu verfolgen, sondern auch seine Korrespondenz, die für die deutsche Literaturgeschichte dieser Zeit und nicht nur für die Karl-Kraus-Forschung von besonderem Wert ist. (Die Geschichte der Entstehung des „Sturm“ läßt sich bestimmt aus den mehr als 300 Briefen und Postkarten Waldens aus dieser Zeit besser rekonstruieren als aus den oft verworrenen und ungenauen Erinnerungen der Zeitgenossen.)

Zu bemerken wäre noch, daß diese nicht leichte Arbeit der Aufschlüsselung und Zuordnung des ganzen Materials, das heute jedem Forscher zur Verfügung steht, von einem einzigen Mann, Dr. Paul Schick, neben seiner Bibliotheksarbeit bewältigt wurde.

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