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Ein Schatz, den keiner will

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„ICH BIN WIE EIN MANN, DER MIT EINEM SCHATZ HAUSIEREN GEHT und ihn verschiedenen Leuten anbietet, die den Schatz jedoch nicht haben wollen.“ Mit diesen Worten umreißt Josef Toch, der Leiter des Zeitgeschichtlichen Archivs, seine Situation. Der Schatz — das ist das älteste und größte Zeitungs- ausschnittarchdv Österreichs. Noch vor seinem hundertsten Geburtstag, im Jahre 1967, könnte dieses Archiv, dessen Bestände derzeit in rund 40.000 Mappen geordnet sind — jede mit historisch hochinteressantem Material gefüllt — zum Tode verurteilt werden. Allein im letzten Jahr hat diese Sammlung zirka 20 größere wissenschaftliche Arbeiten (Dissertationen usw.) inspiriert, doch in Österreich scheint keine Stelle für die Weiterführung wirklich zustän dig zu sein. Die Ford-Stiftung, die das Archiv die letzten drei Jahre hindurch im Rahmen des „Instituts für Höhere Studien“ unterstützt hat, wird ab 1. Oktober 1966 die Finanzierung einstellen, und keine österreichische Stelle hat sich noch bereit erklärt, dafür einzuspringen.

Im Keller des Hauses der Wiener Arbeiterkammer, im zweiten und dritten Stockwerk unter der Erde, sind die Regale aneinandergereiht: Das Zeitgeschichtliche Archiv imponiert allein schon durch seinen äußeren Umfang. In den Regalen: Mappen, mit Zeitungsausschnitten, sowie Zeitungsbände und Nachschlagewerke; aus der Zeit der Monarchie, aus der 1. Republik; hochinteressantes, kaum bekanntes Material der Nazizeit und Aktenberge, deren unveröffentlichter Inhalt die USIA-Betriebe aus der Zeit von 1945 bis 1955 betreffen. Doch neben den Regalen stapeln sich die Zeitungen, die laufend anfallen,, die aber nicht aufgearbeitet werden können. Josef Toch und seine drei Mitarbeiter können zwar die Sichtung und Ordnung des alten Materials bewältigen, um aber das Archiv laufend zu ergänzen, bedürfte es eines bedeutend größeren Mitarbeiterstabes.

DIE GESCHICHTE DES ARCHIVS BEGANN 1867, in dem Jahr, in dem sich, durch den Übergang zur konstitutionellen Monarchie angeregt, das politische und publizistische Leben in Österreich intensivierte. Die Redaktion des „Tagblattes“, das im Steyrermühlverlag am Fleischmarkt erschien, das spätere Pressehaus, legte für redaktionelle Zwecke ein Archiv an — klein und bescheiden, wie redaktionelle Archive zu sein pflegen. Doch das Archiv wuchs und verselbständigte sich. Es hörte auf, redaktionsintem zu sein, und wurde direkt dem Steyrermühlverlag unterstellt. Die Erste Republik brachte dem Archiv eine bedeutende Bereicherung, vor allem die Forschung über die Wehrverbände dieser Zeit wäre ohne dieses Material noch weit hinter ihrem jetzigen Stand zurück: auf Grund des Archivmaterials konnte zum Beispiel festgestellt werden, daß die Zahl der

Wehrverbände der Ersten Republik 150 betrug.

Im März des Jahres 1938 wurde das Zeitgeschichtliche Archiv vom Ostmärkischen Verlag übernommen. Die Herren dieser Zeit hatten schnell erkannt, welche Bedeutung dem Archiv, das einen respektablen Umfang angenommen hatte, zukam. 15 Mitarbeiter betreuten es in diesen Jahren. Diese Zahl erklärt, warum die Dokumentation dieser Jahre der deutschen Besetzung besonders umfangreich ist; heute findet sich im Zeitgeschichtlichen Archiv die einzige vollständige Pressedokumentation über das Dritte Reich. Aber nicht nur Dokumente von und über die braunen Machthaber wurden gesammelt, sondern auch Unterlagen über Vorgänge auf alliierter Seite. Mit einer Akribie sondergleichen wurden selbst noch einzelne personelle Veränderungen in den alliierten Generalstäben vermerkt. Für die zeitgeschichtliche Forschung sind auch die verzeichneten Einzelheiten des wohl schrecklichsten Kapitels des Dritten Reiches, der Judengesetzgebung und -Vernichtung, ein noch lange nicht erschöpfter Fundus.

1945 WURDEN WIEDER EINMAL DIE HERREN DES ARCHIVS AUSGEWECHSELT. Die KPÖ übernahm das Archiv, und der Steyrermühl-

verlag stimmte den bereits geschaffenen tatsächlichen Besitzverhältnissen zu. Die Kommunistische Partei Österreichs wurde Pächter des alten Hauses am Fleischmarkt, in dem die kommunistischen Zeitungen herausgebracht wurden. Im Pachtvertrag hatte sich der Parteiverlag verpflichtet, das Zeitgeschichtliche Archiv weiterzuführen. Der Personalstand umfaßte in dieser Zeit 12 Mitarbeiter; für das Archiv in seiner heutigen Situation eine unerreichbare Zahl. Das Material aus dieser Zeit, sowohl über die KPÖ — die Ja damals mehr war als eine fast bedeutungslose Splitterpartei — als auch über den riesigen Apparat der sowjetischen Besatzungsmacht, wartet noch zu einem erheblichen Teil auf seine Auswertung durch die Historiker.

Das KP-Regime am Fleischmarkt ging 1956 zu Ende, als der Globus- Verlag in sein neues Haus am Hoch- städtplatz übersiedelte. Das Archiv wurde, dem Pachtvertrag entsprechend, dem Steyrermühlverlag zurückgegeben, und in das Haus am Fleischmarkt zog mit Molden die „Presse“ ein. Jedoch: nur das Haus wurde übernommen, nicht aber das Archiv. Niemand schien damals so recht zu bemerken, von welcher Bedeutung dieses Archiv war. Zu lange galt es als exklusive Angelegenheit einer politischen Außenseitergruppe, als daß man bereit gewesen wäre, die Mittel zur Verfügung zu stellen, die ‘nun einmal zur Weiterführung notwendig gewesen wären. Das Archiv wurde stillgelegt und sollte schon in die USA verkauft werden. Da griff die Wiener Arbeiterkammer ein und erwarb das gesamte Archiv; aber nicht, um dessen eigentlichen Kern zu bekommen, die Sammlung der Zeitungsausschnitte, sondern wegen der angeschlossenen, umfangreichen Referenzbibliothek. Das eigentliche Archiv verschwand von der Bildfläche.

EINIGE JAHRE SPÄTER STIESS JOSEF TOCH, als er die Keller der Arbeiterkammer durchstöberte, auf große Säcke, für deren Inhalt er sich interessierte. Als Historiker und Publizist erkannte Toch sofort, daß er das alte „Tagblatt“-Archiv und somit das größte Zeitungsausschnittarchiv Österreichs vor sich hatte. Toch konnte nicht einsehen, warum ein Archiv mit einer solchen Bedeutung in tiefen Kellern vergraben liegen sollte. Er begann sich für die Reaktivierung des Archivs einzusetzen und versuchte, eine Stelle dafür zu gewinnen. Es bestand auch überall Interesse, aber leider, niemand war dafür zuständig. Eine außerösterreichische Institution, die Ford-Stifung, die damals gerade in Wien das „Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche For-

schung“ ins Leben rief, mußte eingeschaltet werden. 1963 kam es zu einem Vertragsabschluß zwischen dem Institut und der Arbeiterkammer Wien. Die Arbeiterkammer stellte die in ihrem Eigentum verbleibenden Bestände und auch die Räumlichkeiten zur Verfügung, und das Ford-Institut sorgte für das Personal, dessen Aufgabe das Sichten und Ordnen des Archivs nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten sein sollte. Josef Toch wurde mit der Leitung betraut, drei Mitarbeiter wurden ihm beigegeben. Der erklärte Zweck war, das vorhandene Material der zeitgeschichtlichen Forschung zur Verfügung zu stellen.

Endlich konnte eine systematische Rohordnung des Archivs vorgenommen werden. Josef Toch hatte schon vorher im Archiv eine eigenständige, in die Hauptsammlung noch nicht eingearbeitete Sammlung entdeckt;

das alte Archiv des sozialdemokratischen Parlamentklubs aus der Monarchie und der Ersten Republik. Der damalige sozialistische Klubsekretär, Dr. Adolf Schärf, hatte Berge von wichtigen Zeitungsausschnitten, nur grob geordnet, einfach in Mappen abgelegt. Diese Mappen tragen noch heute die handschriftlichen Vermerke des damaligen Parlamentsbeamten und späteren Bundespräsidenten.

DAS „INSTITUT FÜR ZEITGESCHICHTE“ (UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. LUDWIG JEDLICKA) erkannte von Anfang an den Wert des Zeitgeschichtlichen Archivs und arbeitete eng mit Josef Toch in der Auswertung der Bestände zusammen. Die Verbindung zur Universität war also gegeben, die zeitgeschichtliche Forschung schien sich eine bedeutende Quelle gesichert zu haben. Aber die Entwicklung verlief anders. Nicht nur, daß es nicht möglich war, die Mittel für die Anstellung einer größeren Anzahl von Mitarbeitern zu bekommen, um von einer bloß sichtenden und ordnenden Tätigkeit zu einer systematischen Weiterführung des Archivs zu gelangen, begann auch das Kuratorium des „Instituts für Höhere Studien“ Schwierigkeiten zu machen. Das Institut hätte den Zweck, die modernen Gesellschaftswissenschaften in Österreich anzukurbeln, nicht aber, österreichische Archive zu erhalten; dafür müßte doch eine österreichische Stelle zu gewinnen sein. Schließlich beschloß das Kuratorium, ab 1. Oktober jede Unterstützung einzustellen.

Diese Schwierigkeiten hatte Josef Toch kommen gesehen. Vor zwei Jahren hatte er neuerlich begonnen, von einer österreichischen Stelle zur anderen zu pilgern. Er entwarf ein Projekt, das den Ausbau des Archivs zu einer laufenden politischen Dokumentation vorsah, und legte es dem Parlament vor. Dort war man sehr daran interessiert, vor allem die Abgeordneten. Aber schließlich schreckte man davor zurück, daß dieses Projekt einen Personalstand von 22 Personen erfordern würde. (Das Zeitungsausschnittarchiv des „Spiegel“ beschäftigt 60 Personen.) Höflich verwies man an das Bundesministerium für Unterricht. Dieses rief eine Konferenz von Vertretern aller größeren Bibliotheken ein und legte das Projekt vor. Die Bibliothekare sahen durchaus ein, daß der Ausbau des Archivs eine sehr wichtige Sache wäre, aber jede Bibliothek fürchtete, durch den Personalaufwand des Archivs keine der für sie selbst benötigten neuen Dienststellen bewilligt zu bekommen. Man bedauerte und verwies an den Nationalrat zurück, weil es sich um ein an „politische Interessen gebundenes Unternehmen“ handle. Vom Haus am Ring wanderte die Angelegenheit bald wieder weiter, auf den Ballhausplatz, und in der Präsidialsektion des Bundeskanzleramtes liegt sie derzeit — bis auf weiteres.

Aber es existiert noch ein zweites Projekt, dessen Durchführung es sogar mit sich bringen würde, daß sich das Archiv selbst erhalten könnte. Das Archiv müßte einer gemeinsamen Führung aller interessierten Institutionen (Zeitungen, Behörden) unterstellt werden. Wer am Archiv interessiert wäre, der sollte auch einen Mitarbeiter dafür abstellen. So könnte ein Teil der Personalkosten von Anfang an von denen getragen werden, die schließlich vom Bestehen des Archivs profitieren. Der Rest der Kosten könnte hereingebracht werden, indem man für die Leistungen des Archivs kostendek- kende Gegenleistungen verlangt. Aber auch mit solchen Plänen drang Josef Toch nicht durch, und er muß nun ernsthaft befürchten, daß am 1. Oktober 1966 die langgestreckten Regale in den Kellern der Wiener Arbeiterkammer wieder ausgeräumt werden, daß das ganze Archiv verpackt und irgendwo achtlos abgestellt wird; bis es vielleicht nach Jahren oder Jahrzehnten neuerlich entdeckt wird

VIELLEICHT IST ES EIN LETZTER HOFFNUNGSSCHIMMER für das Zeitgeschichtliche Archiv, daß Universitätsprofessor Jedlicka und Universitätsdozent Pau- pie bei einem Rettungsversuch mit dem Unterrichtsministerium wieder ins Gespräch kommen konnten. Prof. Jedlicka versucht, das Archiv dadurch zu retten, daß er es seinem Institut unterstellt. Doch dafür braucht er eben die Zustimmung des Ministeriums. Daß diese Behörde nicht sofort abgewunken hat, könnte eine letzte Chance sein. Es hat den Anschein, als würde das Unterrichtsministerium einer solchen Lösung unter der Bedingung zustimmen, daß die Arbeiterkammer weiterhin als Eigentümerin des Archivs es übernimmt, die Bestände zugänglich zu machen. Es wird also jetzt daran liegen, ob sich Unterrichtsministerium und Arbeiterkammer einigen können, oder, um die Situation unter einem weiteren Aspekt zu sehen, ob die rot-weiß-rote Koalition funktioniert.

Kommt es nicht zu einer solchen Rettung im letzten Augenblick, verliert die zeitgeschichtliche Forschung in Österreich ein einzigartiges Archiv. Österreich würde sich selbst eine Möglichkeit nehmen, seine jüngste Vergangenheit besser kennen- und verstehen zu lernen. Würde nicht eine solche Flucht vor der Verantwortung eine Flucht vor der Vergangenheit sein?

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