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Österreichs Schriftdenkmäler und der letzte Krieg

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Die heuer im Herbst abgeschlossene Rückführung der im letzten Krieg verlagerten Bestände des größten Archivs Österreichs, ja vielleicht des wichtigsten für die Geschichte Mitteleuropas, des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien, bietet erstmals Gelegenheit einer vorläufigen Übersicht über die Bergungsmaßnahmen, die Bergungsorte und die in diesem Krieg eingetretenen Verluste an den wertvollen Kulturdenkmälern des Schrifttums für Österreich.

Dieses wahrhafte Dorado für den Historiker, das sich aus mehr als 200 Einzelarchiven zusammensetzt, von denen nur die markantesten erwähnt zu werden verdienen: das alte Schatzgewölbearchiv, die Archive der Geheimen österreichischen Staatsregistratur, der Geheimen Konferenz, der Hof- und Staatskanzlei, des Ministeriums des k. u. k. Hauses und des Äußern und seiner Missionen im Ausland, ferner die Archive der Staatskonferenz, des Staatsrates, des österreichischen Reichstages, des Reichsrates, verschiedener Polizeibehörden, der Kabinettskanzlei und die Klosterarchive, die umfangreichen Hofarchive sowie die Archive des „Heiligen Römischen Reiches” nebst den zahlreichen Aktennachlässen der hervorragendsten politisch, kulturell und wissenschaftlich interessanten Persönlichkeiten Österreichs. Diese weit über 150.000 Faszikel, Kartons oder Bände enthaltenden Einheiten, zu denen noch die einzigartige, mit 816, von Ludwig dem Frommen be- ginnencle, über 70.000 Urkunden zählende Sammlung und die reichhaltige, über 2000 Bände umfassende Handschriftensammlung kommen, werden noch durch eine Siegelstempel- und Siegelabgußsammlung sowie durch die über 80.000 Bände zählenden Bibliotheksbestände ergänzt.

Die ersten im Archiv notwendigen Bergungsmaßnahmen waren schon bei der „Sudetenlandkrise” 1938 notwendig geworden und hielten bis 1944 fast ununterbrochen an. Zur Verlagerung der gewaltigen Aktenmassen wurden mehr als 120 Möbeiwagen herangezogen. Die außerhalb Wiens gelagerten Archivalien wurden mittels Eisenbahn, dann in Lastkraftwagen oder Pferdefuhrwerk und im Winter oft mit Schlitten befördert. Waren es zuerst in Wien die ausgedehnten Kellerfluchten des Archivgebäudes, der neuen Hofburg, die Unterkirche von St. Peter und die Laimgrubenkirche, die unter anderen zur Bergung dienten, so wurden später vorwiegend im nördlichen Niederösterreich zahlreiche Stifte, Schlösser und Pfarrhöfe dazu benützt. Selbst in Oberösterreich wurden die Stollen des Salzbergwerkes in Lauffen bei Ischl, die sich wegen ihrer Trockenheit zur Aufnahme von Akten übrigens sehr eigneten, verwendet. In Niederösterreich allein befanden sich mehr als 25 Bergungsorte, von denen Stift Geras, die Pfarren Zissersdorf, Trabenreith, Nondorf, Kirchberg an der Wild, Japons, Blumau und die Schlösser zu Fronsburg, Kirchstetten, Ober-Höflein, Gun- tersdorf und Dobersberg unter anderem erwähnt seien.

Bald nach den Kampfhandlungen konnte bereits im August 1945 die Rückführung der Archivbastände einsetzen, da sich die ganze Bergungsarbeit als fast überflüssig erwiesen hatte. Denn das Archivgebäude am Minoritenplatz blieb mit seinen elf ausgedehnten Lagergeschossen, außer Fenster- und Dachschäden, unversehrt erhalten.

Die erste Hilfe kam von der Roten Armee durch Beistellung von Lastkraftwagen, der amerikanischen Besatzungsmacht ist für die Rückbringung aus Lauffen wesentlich zu danken und das britische Element gab größere Benzinzuschüsse zu der dann später von den zuständigen staatlichen Stehen mittels Lastkraftwagen in fast drei Jahren ermöglichten Beendigung der Rückbringungen. Welches Maß an unermüdlicher Arbeit und selbstloser Mühe unter schwierigsten Verhältnissen bei der Kälte des Winters und der glühenden Sommerhitze von allen darin beteiligten Beamten und Angestellten dabei geleistet werden mußte, kann wohl jedermann ermessen.

Glücklicherweise sind die durch den Krieg erlittenen Schäden an den Archivalien prozentmäßig wohl klein, doch ideell für die Geschichte Österreichs leider um so größer. Unmittelbar durch Kampfhandlungen wurde der Bergungsort Obritzberg bei Melk in Niederösterreich getroffen, wo die Akten des österreichischen Staatsrates, jenes von Kaiserin Maria Theresia geschaffenen Ratskollegiums, in dem alle Österreich und Ungarn betreffenden wichtigen Angelegenheiten seit 1761 beraten wurden, bis 1833 mit rund 1500 Faszikeln durch Artillerieeinwirkung in Brand geschossen und restlos vernichtet wurden. Die Geschichtsschreibung der josephinischen Zeit ist damit ihrer wertvollsten Quelle beraubt worden. Im entlegenen Gutshof Markhof bei Marchegg gingen bei Truppeneinquartierungen und der dadurch erfolgten Lagerung der dort geborgenen Bestände von Prozeßakten des 17. und 18. Jahrhunderts im Freien, von der sogenannten „Oberen Registratur” des Reichshofrates, von etwa 2100 Faszikeln mehr als 35 Prozent durch Feuchtigkeit zugrunde. Die im Schloß ‘ Guntersdorf erliegenden Bestände erlitten besonders im Zusammenhang mit dem dort lagernden Privatbesitz des ehemaligen Gauleiters Schirach, größere Verluste, besonders die Bestände der Staatskonferenz- und die alten Kabinettsakten des 18. Jahrhunderts. Weiter sind bei zahlreichen, namentlich kleineren Archivkörpern, besonders bei Nachlässen usw., Einzelverluste von Faszikeln und Bänden zu beklagen, deren Feststellung bei der Neuordnung und Beseitigung der entstandenen Beschädigungen noch jahrelange Arbeit erfordern dürften. Jedenfalls sind die schriftlichen Denkmale der Vergangenheit Österreichs nun wieder im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zugänglich, das sich bereits zu der im Herbst des nächsten Jahres stattfindenden 200-Jahr-Feier rüstet.

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