6604015-1954_06_04.jpg
Digital In Arbeit

Ein Dokumentenschatz steigt aus dem Grabe

Werbung
Werbung
Werbung

Es war in den Tagen der schwersten Heimsuchung Wiens. Knapp vor der Befreiung — am 6. April Į 945 schien der Untergang des Stadtzentrums nahe — schlug eine Bombe in das Erzbischöfliche Palais, die einen Gebäudeteil traf, der die alten Urkunden verwahrte. Hilfsbereite Menschen und die Feuerwehr griffen rettend ein, schafften die Aktenbündel in die mehrere Stockwerke tiefen Kellergewölbe des Gebäudes. Auf Ordnung dabei zu sehen, war nicht die Zeit. Aktenfaszikel der verschiedenen Archive des Bistums und Erzbistums kamen durcheinander, auch solche, die seit Jahrhunderten nicht mehr durchblättert worden waren.

Als ich den Auftrag erhielt, hier verlagerte Papiere der Alserkirche aus dem Keller in das unterdes neuerstellte Matriken- archiv sicherzustellen, riß ein Faden, an dem ein Aktenpaket hing, und — mich bückend — wurde ich gezwungen, unter ein im Keller stehendes Regal zu kriechen. Im Halbdunkel tastend, bekam ich ein in Papier gebundenes rundliches Etwas in die Hand, das sich bei näherem Zusehen als altes Siegel entpuppte. Was war da? Wo war das zugehörige Dokument? Ich suchte1 und brachte einige Aktenfaszikel zutage, deren eines ein in ein Sackeri genähtes Siegel enthielt. Das zugehörige Pergament erwies sich bei der Prüfung, zufolge dem Gutachten des jetzt amtierenden Generalvikars Dr. A. Streidt, als — die Gründungsurkunde der Dompropstei St. Stephan.

Ein glücklicher Fund und ich der glückliche Entdecker, ein Historiker aus dem Reich, dessen Ehern alte, angesehene Wiener waren und der im Reich keine Möglichkeit erhalten hatte, seine bisherige Universitätslaufbahn weiter zu beschreiten, da er für Westdeutschland, das Alter von 45 Jahren mit einem Jahr überschreitend, in seiner Wissenschaft nicht mehr als gefragt galt.

Ein nunmehr mit großzügiger Hilfe des Ordinariates veranstaltetes Nachsuchen systematischer Art ergab zum Erstaunen der Fachkundigen folgendes Ergebnis:

Vorgefunden wurden 2155 Origįnalųrkun- • dep, Notariatsinstrumente und sonstige Pergamente, von denen bislang ganze 449 als bekannt gelten konnten. Darunter allein von Anbeginn bis 1500 sage und schreibe 549, von 1501 bis 1600 „nur“ 665 usw. Also neu und. unbekannt rund 1706 Urkunden.

Viele von diesen befanden sich einst im Archjv des Spitals zum Heiligen Geist vor dem Kärntner Tor, das Anno 1208 von Leopold VI., dem Glorreichen, gegründet worden war, um damit — das heißt nfit spįner großzügigen Stiftung — das von ihm bereits erstrebte eigepe, vpn Passau unabhängige Bistum Wien einzuhandeln, indem er es dem Heiligen- Gęist-Orden unterstellte.

Der Plan des Herzogs Leopold scheiterte an dem Widerstand des Bischofs Manegpid von Passau. Aber d?s Hospital vor dem Kärntner Tor ward gegründet, Von dessen Archiv ward Anno 1790 ein Teil durch den verdienstvollen Forscher alter österreichischer Urkunden — Smitner — (dessen Adelsurkunde übrigens auęh dabei aufgefunden wurde) eingesehen und zum Teil abgeschrie- fien, zum Teil exzerpiert. Wie sich jetzt an Hand dieses m seinem Codex Piplomaticus Austriacus befindlichen und durch Dr. Kall- brunner in den Wiener Geschichtsquellen veröffentlichten Materiales herausstellt, hat Smitner 1790 nur ein Drittel des vorhandenen Aktenmateriales gekannt, denn er veröffentlichte nur rund 150 Urkunden, indessen das Archiv 591 Urkunden umfaßt. Es sind also allein von diesem Bestand zwei Drittel unbekannt.

Darüber hinaus wurden aufgefunden Bergrecht-, Weinzehent- und andere Grunddienstregister, Urbare sowie Gewährbücher, Ko- pialbücher, zirka 980 Urkunden Kopien, Testamentsbücher mit an die 700 Bürgertestamenten, die, der damaligen Sitte gemäß, bei der Kirche errichtet wurden. Ich fand weiterhin zwei Zechbücher, deren ältestes das der völlig unbekannten Zeche „U n s e- rer Lieben Frau von St. Peter“ ist, ausgeschnitten aus einem alten mittelhochdeutschen Liederbuch das eines der ältesten Marienlieder unserer Zeit enthält. „Zechen“ sipd die gewerblichen Bruderschaften, die, aus enger Verbindung mit der Kirche erwachsen, als Vorläufer unserer Innungen geltem Daneben enthält das Zechbuch dieser aus dem 13. Jahrhundert stammenden Vereinigung 450 Bürger- und Gewerbenamen, und das anderę Zechbuch, das der Fronleichnamszeche, enthält zirka 1500 Bürgernamen mit Sterbedaten.

Weiterhin wurden gefunden dreiStadt- und Straßenregister aus dem 14. bis 15. Jahrhundert, zwei Archivregister aus der Anfangszeit des Wiener Bistums, 138 Bullen, Über 1ÖO0 Siegel, darunter allein fünf Reitersiegel und Standbildsiegel Herzog Rudolfs IV- des Stifters, Ottokars, Sigismunds und anderer, zum Teil völlig unbekannter Art. Gefunden wurden auch außer den genannten Kopialbüchern 8000 bis 9000 Ropien alter Urkunden.

Den wohl größten Wert stellt a|s ä 11 e s t e Urkunde des Bistums Wien eine seit 1935 vermißte wichtige Urkunde dar. Sįe stammt aus dem Jahr 1138 und beinhaltet eine Bestätigung der Exemption des Stiftes Göttweig, ausgestellt vpn Papst Innozenz II, (1130 bis 1143) romtreuen Benediktinerstift zu Händen des Abtes C h a d o 1 h o c h, offenbar eines der irischen Möqche, die in der Ostmark Pioniere der christlichen Kulturarbeit waren.

Erstaunlich ist der Erhaltungszustand. Die Urkunden sind sämtlich leserlich, gut erhalten und von einem Zustand, als wären sie gestern erst ins Archiv gewandert. Daß sic „verschwanden“, erklärt sich aus folgendem Grund:

Das Archiv des Spitals zum Heiligen Geist war eines der ältesten von Wien. Als 1529 der Türke anrückte, wurde alles überschnell gesichert. Wir kennen das aus der letzten Krjegszeit. Und so wanderte es in das Archiv der Mensa des neuen Bischofs von Wien. Denn erst 1469 war das Wiener Bistum neu gegründet worden. Hier geriet es unter den Wirren der Zeit in Vergessenheit und ge langte endlich in das Archiv der Güterdirektion, von dem immer nur Teile bekannt wurden. Erst die nach dem Bombenangriff vom Jahre 1945 erfolgte Neuordnung förderte den Schatz zutage, dessen Aufdeckung als großes Ereignis in der wissenschaftlichen

Welt gelten kann. Der Fund wird die Geschichte des mittelalterlichen Wien nicht nur bereichern, sondern ihre bisherige Darstellung mehrfach korrigieren. Nicht zuletzt die Familienforschung erhält wertvollste Unterlagen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung