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Schatzkammer europäischer Geschichte

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Eine ausgestreckte Hand bedeutet immer auf irgendeine Weise Bereitschaft und Brücke, und, wie in unruheschweren Zeiten oft ein geringer Pfeiler Schutz und Zuflucht werden kann, so vermag auch sie ähnliches zumindest anzudeuten und zu verheißen. Auch Feiern und Feste sind letzten Endes nichts anderes als ausgestreckte Hände: der Alltag soll vergessen werden und die Besinnung soll an die Seite der Gesinnung treten.

Wenn nun das österreichische Staatsarchiv anläßlich de9 200jährigen Jubiläums des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien für den September zu einer Archiv- und Historikertagung lädt, so geschieht das vor allem in dem Bewußtsein, eine Sendung zu erfüllen.

Das Staatsarchiv, das im Grunde eine Dachorganisation darstellt, enthält in der Hauptsache die alten Zentralarchive der einzelnen Ministerien der früheren Monarchie: zunächst das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, dann das frühere Staatsarchiv des Innern und der Justiz, heute Allgemeines Vcrwaltungs- archiv geheißen, ferner das Archiv der als Hofkammer bezeichneten Finanzzentralstelle des alten Kaiserstaates, das jetzige Finanz- und Hofkammerarchiv, viertens das Kriegsarchiv und endlich das Archiv für Verkehrswesen, das erst 1945 dem Komplex angegliedert und dem Allgemeinen Verwaltungsarchiv unterstellt wurde.

Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv nun, die größte und bedeutendste Abteilung des Gesamtkörpers, ist ursprünglich aus seit 1137 in Klosterneuburg von den Babenbergern gesammelten und dann von der ablösenden Dynastie der Habsburger nach Lilienfeld transferierten archivalischen Beständen erwachsen, die aber später infolge der verschiedenen Erbteilungen lange zerstreut, teils in Wien, teils in Innsbruck und Graz lagerten, bis sich schließlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts Stimmen für ein Gesamtarchiv des Erzhauses erhoben. Im Epochenjahr der österreichischen Verwaltung 1749 war es dann so weit, daß Kaiserin Maria Theresia am 13. September das De- cretum instructivum erlassen konnte, in dem die Richtlinien für die künftige Verwahrung und Bewahrung der wichtigsten Haus- und anderen geheimen Schriften und Dokumenten enthalten sind. Danach sollten den Inhalt des Archivs vorerst die eigentlichen Haussachen bilden, dann Urkunden, die die gesamten Staaten oder die Monarchie betreffen, und schließlich die die Partikularländer angehenden Akten. 1762 wurde dieses so begründete Institut der Hof- und Staatskanzlei subordiniert und dient auch gegenwärtig noch den Zwecken des einstigen Ministeriums des Äußeren, das nunmehr einen Bestandteil des Bundeskanzleramtes bildet. Seit 1753 waren die Archivalien in Räumen des Erdgeschosses des Reichskanzleitraktes der Hofburg untergebracht, die unmittelbar am zum Michaelerplatz führenden Torweg lagen. Ein neues Archivgebäude konnte erst 1902 bezogen werden: es war im harmonischen Anschluß an das Ballhaus Johann Lukas von Hildebrandts errichtet worden und stellt noch heute, trotz unzweifelhaften Mängeln und Nachteilen eine in vieler Hinsicht durchaus vorbildhafte Leistung dar, obwohl es natürlich längst zu klein geworden ist. Der Krieg hat es, bis auf unbedeutende Schäden, zum Glück verschont: da aber die Archivalien verlagert gewesen waren, gingen im Verlauf der Kampfhandlungen wichtige Bestände, so die Akten des österreichischen Staatsrates bis 1830, zugrunde.

Nichtsdestoweniger ist das Haus-, Hof- und Staatsarchiv gerüstet, bei Gelegenheit seiner Festtage im September dieses Jahres alle würdig zu empfangen, die mit ihm feiern wollen. Die Generaldirektion bereitet zunächst die Herausgabe einer Festschrift vor, die als Ergänzungsband der von ihr herausgegebenen „Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs“ erscheinen soll Zur Beteiligung daran gingen fast ebenso viele Einladungen, als das Archiv selbst Jahre zählt, an die Gelehrten aller Herren Ländern, die sich mit dem Gesamtgebiet der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit sowie der Hilfswissenschaften oder aber mit archivalischen Problemen befassen. Von diesen Persönlichkeiten haben 109 ihre Bereitwilligkeit zur Mitarbeit kundgegeben; bis zum Einsendeschluß sind 83 druckfertige Arbeiten eingelangt.

Außer dieser Festschrift befindet sich als Gemeinschaftsarbeit der ganzen Beamtenschaft des Hauses ein Faksimilewerk im Druck, das auf Grund der Schätze des Haus-, Hof- und Staatsarchivs bedeutungsvolle Dokumente und Urkunden in Abbildungen mit Transkriptionen und kurzem erläuterndem Text darbieten will. Di Originale dieser Kostbarkeiten werden in einer repräsentativen Schau in der Ausstellung des Archivs am Minoritenplatz zu sehen sein.

Zur gleichen Zeit und im engsten Zusammenhang damit findet in Wien die konstituierende Hauptversammlung des Gesamtverbandes österreichischer Geschichtsvereine und damit neben dem erten Archivtag der erste Historikertag im neuen Österreich statt, der in sieben Sektionen über Fragen der Geschichte und ihrer vorbereitenden Wissenschaften sowie des Geschichtsunterrichtes beraten wird.

So will und wird das 200jährige Jubiläum des Haus-, Hof- und Staatsarchivs beweisen, daß der ehrwürdige Archivkörper mehr ist als eine „lebende Urkundenregistratur“, wi man ihn auch genannt hat: er repräsentiert gleichsam ein Clearing-house zwischen den Nationen, voll einer ausgleichenden Vermittlungsbereitschaft für seine ständig anwachsende Benützerzahl, die aus fast ollen Teilen Europas und aus Amerika seine Hilfe beansprucht: allein 1948 wurden 344 schriftliche Anfragen erledigt, mit 5636 Arbeitstagen wurden 382 Benützer gezählt, für die 5088 Aktenaushebongen getätigt wurden. Das Jubiläum will aber auch zeigen, daß das Haus-, Hof- und Staatsarchiv nicht zu einem verkalkenden Zerberus einer alten Tradition geworden ist: Ein Archiv ist im Grund nur äußerlich etwas Entrücktes und Verstaubtes: in Wahrheit ist es zeitlos wie alles Nötige und Nützliche. Um ihm dienen zu können, bedarf man daher weniger der Reife, denn Erfahrung gewinnt ein Williger mit jedem Tag, als der Liebe und Begeisterung. Daß die jeder hat, der mit dem Haus am Minoritenplatz in Berührung steht, soll eben sein Jubiläum dartun: als einmaliger Sinnträger österreichischer Kultur und Weltgeltung, als aller Zeiten Brennpunkt sei es gleichsam die Verkörperung der Worte Feuchterslebens „Was ist die Vergangenheit? Du selbst!“

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