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Kunstwerke für die Lackfabrik

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IN DIESEN TAGEN hat in Stockholm der 15. Kongreß der Vereinigung der Internationalen Filmarchive stattgefunden. Es ist eine der wenigen weltumspannenden Vereinigungen, in denen Wissenschafter aus West und Ost mit gemeinsamen Anliegen beisammensitzen. Die fünf Kongresse, die in der Reihe fehlen, waren Kriegsjahre.

Diese Vereinigung umfaßt jene Stellen in der Welt, die sich bemühen, filmgeschichtlich wichtige und künstlerische Filme der Vernichtung zu entreißen und sie unter Bestimmungen aufzubewahren, die ihren Mißbrauch verhindern. Dieser Vereinigung gehören große und kleine Archive an, das George Eastman House in Rochester mit seiner großen Stiftung, das Museum of Modern Art in New York, der Gos- film Fond in Moskau mit Hunderten von Angestellten, das tschechische Staatsfilmarchiv, das Britische Filminstitut in London, die Cinematheque Franęaise in Paris mit einem Bestand von mehr als 50.000 Filmen, aber auch das Oesterreichische Filmarchiv, das weder genug Lagerraum noch Personal hat, die kostbaren Schätze, die es besitzt, zu heben.

Diese internationale Vereinigung bemüht sich, die Oeffentlichkeit und die Filmwirtschaft von der Notwendigkeit, Filmwerke zu archivieren, zu überzeugen. Denn nur wenige Menschen, die Filme sehen, machen sich Gedanken, was mit den alten Filmen geschieht.

STELLEN SIE SICH VOR: Ein Maler malte ein Bild und stellte es auf einer Kunstausstellung gegen Eintrittsgeld aus. Wenn jedoch die Ausstellung zu Ende ist, müßte das Bild vernichtet werden, weil es so in den allgemeinen Aus- stdUurigsb'ėdingungen bestimmt wäre. Unsere gesamte Kunstwissenschaft wäre dann nur auf Beschreibungen und Ueberlieferungen über vergangene Kunstwerke angewiesen, und niemand könnte mehr als einen zufälligen Ausschnitt der zeitgenössischen Kunst kennen.

Stellen Sie sich weiter vor, daß solche Bestimmungen auch für das gedruckte Wort gälten, und daß jedes Buch, wenn die Rechte des Verlegers daran abgelaufen wären, vernichtet werden müßte. Es gäbe nicht nur keine Literaturwissenschaft, der gesamte Kulturbesitz der zivilisierten Welt wäre durch eine solche Bestimmung in Frage gestellt.

Bei Büchern und Bildern gibt es solche barbarische Uebungen nicht mehr. Schon vor Jahrhunderten haben sich weitschauende Männer — Fürsten, Souveräne und Regierungen — gefunden, welche Bücher und Gemälde in ihren Sammlungen für die Nachwelt erhielten. Unsere Museen und Staatsbibliotheken sind das Kulturerbe. das wir von einer auf die Zukunft bedachten Vergangenheit übernommen haben.

ANDERS BEIM FILM. Während jede gedruckte Veröffentlichung der Nachwelt und der Wissenschaft erhalten bleibt, ist das gewaltigste Medium, das neben die Buchdruckerkunst getreten ist, der Film, der barbarischen Uebung der Vernichtung wenige Jahre, oft Monate, nach seiner geschäftlichen Auswertung, auch heute noch unterworfen. So wichtige Werke, wie Laurence 1 Oliviers „Bettleroper“, Sternbergs „Der blaue Engel“ und viele andere kamen als gebrauchtes Zelluloid in die Lackfabrik; erst vor kurzem stellte sich heraus, daß sogar das Negativ der deutschen Fassung des australischen Films „Abenteuer in Mara Mara“ vernichtet worden ist, so daß ein Wiederherausbringen dieses wertvollen Jugendfilms, das das Unterrichtsministerium ermöglichen wollte, nicht nur Lizenz- und Kopienkosten, sondern den in die Hunderttausende gehenden Aufwand für eine neuerliche Synchronisierung erfordert hätte. In den Lizenzverträgen der Filmwirtschaft ist diese Vernichtung der Kopien nach Ablauf der Lizenzfrist in der Regel ausdrücklich gefordert.

WIE AUF ANDEREN GEBIETEN in der Vergangenheit fürstliche Sammler, haben sich auch in unserer Zeit Männer, welche die Bedeutung des Films erkannten, diesem barbarischen Brauchentgegengestellt und sich bemüht, künstlerisch bedeutende oder filmgeschichtlich wichtige Werke der Vernichtung zu entreißen. Schon vor Jahrzehnten! Hugo T h i m i g schrieb im Jahre 1912:

„Die Schaffung eines Archivs für kine- watographische Filme, die der Nachwelt den körperlichen Ausdruck für die Geschichte der Menschheit gewährleisten könne, ist wohl ein Gedanke von großer kultureller Bedeutung.“ Und im Jahre 1914 schrieb Hermann H ä f k e r in seiner Schrift „Das Kino und die Gebildeten“:

„Was für Werte aber heute auf Nimmerwiedersehen verlorengehen, ist gar nicht zu ermessen. Kein Zweifel, daß die ernstlichen Versuche dieser und jener Urheber und Fabriken, den Weg zum Besseren zu finden, und so etwas wie ein Filmdrama herauszubilden, dauerndes kultur- und kunstgeschichtliches Interesse haben werden. Die ersten kinematographischen Schattenspiele von heute, tastende Versuche ins Eigenland einer besonderen Filmkunst, werden vielleicht einstmals mit Papiergeld auf gewogen werden.“

Fünfzehn Jahre nach diesen Stimmen, 1929, begann in Wien in der Nationalbibliothek Professor Joseph G r e g o r in der Theatersammlung ein Filmarchiv aufzubauen, das zunächst den graphischen Niederschlag der. Filme sammelte, dann aber auch Filme selbst in diesen Bestand einbezog. Es war das erste staatliche Institut der Welt, das Filme sammelte.

Erst 1933 entstand das Britische Filminstitut (fast gleichzeitig mit dem in Oesterreich 1934 gegründeten, 1938 aufgelösten Institut für Filmkultur) und 1935 seine National Film Library, das britische nationale Filmarchiv. 1936 wurde aus einer privaten Sammlung von Henry Langlois die Cinematheque Franęaise mit Förderung des französischen Staates entwickelt, es folgten die mit Mitteln der Rockefeller-Stiftung ins Leben gerufene amerikanische Sammlung und das im gleichen Jahre entstandene Reichsfilmarchiv, dessen Bestände wahrscheinlich in dem von der Sowjetregierung an die ostdeutsche Regierung zurückgegebenen Filmbestand von 38.000 Filmen wenigstens zum Teil enthalten sind.

Wir Oesterreicher gehörten also zu den ersten, die erkannt haben, worum es geht. Trotzdem gehören wir heute noch zu den letzten, die diese Erkenntnisse verwirklichen.

WORUM GEHT ES DEN FILMARCHIVEN?

Zu erreichen, daß Filme, wenn ihre Auswertungszeit abgelaufen ist, nicht vernichtet, sondern aufbewahrt werden. Nicht, um wieder gespielt zu werden, denn das Spielen eines Films steht dem zu, der ihn hergestellt oder die Rechte daran erworben hat. Aber der Regisseur, dereinen neuen Film macht, der Kritiker, der Filme beurteilen soll, der Lehrer, der seinen Schülern von Filmgeschichte erzählen soll, der Schauspieler, der die Mimik berühmter Darsteller studieren will, der Kameramann, der zu Großvaters Zeiten noch nicht ins Kino ging, der Kulturhistoriker, der das Bild einer vergangenen Zeit zeichnen soll, sie alle haben echtes Inte -, esse daran, daß der Film auš einer früheren Zeit noch einmal gesehen werden kann, im Vorführraum oder am Schneidetisch. Eine solche Filmsammlung ist das genaue Gegenstück ur wissenschaftlichen Bibliothek.

Für eines müssen die Filmarchive garantieren: daß mit diesen Filmen nicht mehr von Unbefugten Geld verdient wird. Darum geht es auch nicht an, daß solche Filmstreifen von jedermann aufbewahrt werden, sondern es müssen anerkannte Filmarchive sein, welche die Gewähr dafür bieten, daß die Kopien nur für das wissenschaftliche Interesse erhalten bleiben.

Es möge sich niemand der Meinung hingeben, daß die Aufgabe, Filme zu archivieren leicht ist. Film ist ein vergängliches Gut. Er braucht ganz bestimmte Lagerbedingungen. Er muß immer wieder auf seine Lagerfähigkeit überprüft werden. Wenn sich beim alternden Film die Schicht zersetzt und das Zelluloid schrumpft, ist der Film verloren. Um ihn zu erhalten, muß er also vorher umkopiert werden. Das erfordert beträchtliche Mittel. 25.000 Dollar hat vor einem Jahr das Museum of Modern Art von der Rockefeller-Stiftung zugesichert erhalten, um nur diewichtigsten seiner von Vernichtung bedrohten Kopien neu ziehen zu lassen. Diese Gefahr ist heute größer denn je. Etwa 60 Jahre sind die „Wiegenfilme" der Kinematographie alt, und jeden Tag kann ein anderes unersetzliches Filmdokument zugrunde gehen.

NOCH EINE ANDERE GEFAHR DROHT. In der Deutschen Bundesrepublik ist das Sicherheitsfilmgesetz in Kraft getreten. Es ist nur eine

Frage der Zeit, wann Oesterreich mit gleichen Bestimmungen folgen wird. Jede solche Umwälzung bedeutet ein Filmsterben. Die Nitrofilmkopien werden aus dem Verkehr gezogen und der Lackfabrik angeboten. Hilfe gibt es nur. wenn sich der Grundsatz durchsetzt, daß die Hinterlegung eines Films in einem anerkannten Filmarchiv den Verleiher von der Vernichtungspflicht befreit, und wenn jeder Produzent die Möglichkeit erhält, Kopien oder das Negativ in einem solchen Archiv ins Depot zu legen. Dafür muß man aber rechtzeitig vorsorgen, denn wenn die Filme erst einmal nicht mehr vorhanden sind, kann sie kein Mensch mehr archivieren.

So ein Filmarchiv muß nicht einmal sehr viel Geld kosten. Es gibt so viele nicht genützte Schlösser, für die man einen neuen Zweck sucht. Würde es sich nicht lohnen, ein solches Schloß zu einem staatlichen Filmarchiv umzubauen, groß genug, um den zu erwartenden Zuwachs an Kopien auch für kommende Jahrzehnte aufzunehmen? Würde es sich nicht lohnen, diesen Filmbunker mit einem Vorführungs- und Schulungsraum zu verbinden, der ein Studium an Hand dieses einzigartigen Materials ermöglichen könnte, eine Stätte, die eines weltweiten internationalen Interesses sicher sein könnte, und die zugleich der so schwierigen filmwissenschaftlichen Forschung die Materialgrundlage geben würde, ohne die sie nicht vorwärtskommen kann?

Das Oesterreichische Filmarchiv, zu dem sich die Bundesstaatliche Hauptstelle, die Nationalbibliothek, Filmfreunde, Filmwissenschaft und Urania zusammengeschlossen haben, ist erst ein schüchterner Anfang für die Aufgaben, die auf diesem Gebiet zu bewältigen sind. Daß Filmbeflissene in den Vorführungen des Archivs und auch in einzelnen Abenden des vor kurzem gegründeten Wiener Film Clubs Filme aus ausländischen Archiven in Oesterreich sehen können, daß die großen Werke des österreichischen Stumm- und Tonfilms nicht nur tausend Meilen von Wien, sondern nun wieder in unserem Archiv verwahrt werden, sind Erfolge, die für die vier Jahre, seit es besteht, beachtlich sind. Aber es geht nicht um Teilerfolge, es geht um die Erkenntnis, die Gemeinbasis werden muß: daß Film wie Buch und Bild im Interesse unserer Kultur und unserer Wissenschaft der sachkundigen Archivierung bedarf und daß dies eine nationale Aufgabe ist.

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