6556680-1948_25_13.jpg
Digital In Arbeit

Ein Opernarchiv

Werbung
Werbung
Werbung

„Archiv”? „Sammlung verstaubter Akten”! Welche seltsame Verbindung geht hier Wort und Begriff mit jenem pulsierenden Stück Leben ein, das wir „Oper” nennen? Längst hätte sich die geradezu Ideal helfende Ergänzung von Oper und Archiv erweisen können. Schon einmal an entscheidender Wende ihrer Geschichte — als man ins Haus am Opernring eingezogen war und an den künstlerischen und organisatorischen Umbau herantrat — machte man im Regiekollegium den damaligen Direktor Dingelstedt darauf aufmerksam, daß sich „nichts in solcher Unordnung befinde wie das Archiv”. Trotz dieser Erkenntnis erfolgte jedoch nur die Zuteilung eines Kellerraumes, der wohl zu sonst nichts nütze war. Dort legte sich eine wachsende Staubschicht über die Aktenbündel, deren Wert seither nur von zwei Idealisten erkannt wurde: von dem ersten und bisher einzigen Archivar der Wiener Oper, Dr. A. J. Weltner, und voii einem arbeitsüberlasteten Kanzleibeamten, Dr. A. Przistaupinsky, die mit Bienenfleiß eine statistische Gedenkschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestand des Hauses zusammenstellten. In den letzten fünfzig Jahren ist aber außer der Herausgabe der „Jahrbücher der Bundestheater” — mit manchen Unterbrechungen — nichts mehr getan worden. Nach gewohntem Brauch wurden vielmehr all die Akten, die das Alter von dreißig Jahren erreicht hatten, dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv übergeben. Hier liegen nun wertvolle Dokumente neben Kassaberichten, Briefe berühmter Künstler neben einem solchen des Portiers, der seine „Indisposition” wegen Schnupfens anzeigt. — In jüngerer Zeit übernahm die Theatersammlung der Wiener Nationalbibliothek alles in ihre Obhut, was mit dem Wiener Theater zusammenhängt, und nicht zuletzt besitzen auch die städtischen Sammlungen wertvolles Quellenmaterial. Doch es ist verständlich, daß es nur ein geschulter, im Bibliotheks- und Archivwesen erfahrener Wissenschaftler zu heben vermag. Die an ein Opernarchiv vor allem zu stellende Forderung wäre gerade die, daß das erhaltengebliebene neben dem ständig neu anfallenden Material einen klaren Begriff unserer großen Operntradition zu geben vermöge — nicht nur dem Wissenschaftler, dessen lange schon fällige, wirklich tiefschürfende Darstellung dem Publikum diente, sondern vor allem den diese Tradition weiterpflegenden Künstlern.

Die fundamentale Bedeutung dieses modernen, mit Bedacht geführten Archivs läge also darin, nicht nur Quellen zu erhalten, sondern dem gegenwärtigen Opern spiel fördernd zu dienen. Das bewußte Festhalten jeder noch so unscheinbaren Vorarbeit und jedes Details der künstlerischen Leistung oder der Aufführung selbst, die bereits der Vergangenheit angehört, wenn sich der Vorhang senkt, sollte ein organisches Wachsen jeder künstlerischen Leistung aus der alten erprobten oder als mangelhaft erkannten heraus ermöglichen. Vieles Tasten, Versuchen und teures Lehrgeld könnte sich jeder am Gesamtwerk Beteiligte ersparen, wenn er schnell und leicht die Ergebnisse und Erfahrungen früherer Arbeit einsehen könnte. Sänger, Bühnenbildner, Regisseure oder Dirigenten werden nur in beschränktem Maße Bibliotheken oder Archive durchstöbern, sie brauchen ihre Unterlagen bei der Hand, im Haus, wo sie ein Archivar wunschgerecht vorlegt, und darüber hinaus, dank seiner Vorbildung, Hinweise zu geben vermag.

Der Art und Zusammensetzung solchen Materials sind kaum Grenzen gesetzt. Dringlichste Aufgabe wäre es wohl, das noch Vorhandene sicherzustellen, das Verstreute zu sichten und — wo eine Zentralisation in einem Opernarchiv nicht möglich ist — Abschriften oder wenigstens Hinweise anzufertigen. Demgegenüber stünde dann das Aufbewahren des laufend anfallenden Schrift- und Bildmaterials jeder Neuinszenierung, wichtigen Reprise oder jedes bedeutenden Gastspiels: Erwägungen oder Korrespondenzen, die zur Annahme oder zum Abschluß geführt haben, Pläne und Skizzen der Bühnenbildner und Werkstätten, Berechnungen und tatsächliche Gestehung der Kosten im Verhältnis zu erzielten Einnahmen, Anmerkungen des Kapellmeisters und Regisseurs bezüglich der musikalischen und szenischen Einstudierung, sämtliche Photos aus Pflichtexemplaren jedes Ateliers und jedes Künstlers. In absehbarer Zeit würden — nach einmaliger Anschaffung der Apparaturen — ohne besondere Kosten auch Schallplattenaufnahmen großer Sänger in der Wiener Oper hergestellt werden können, ebenso kurze Filmstreifen markanter Szenen. Wesentlich wäre die Sammlung sämtlicher Pressestimmen, um deren positive Anregungen später auszunützen und negative Urteile allenfalls zu entkräften. Das Institut selbst könnte ein klares Bild bekommen von dem künstlerischen und finanziellen Erfolg etwa einer Neuinszenierung aus dem Vergleich all der greifbar zusammengestellten Einzelfaktoren. Jeder Mitwirkende könnte aus seiner eigenen Leistung oder aus der seiner Vorgänger Gewinn schöpfen: der Bühnenbildner aus den älteren Entwürfen oder Szenenbildern, der Regisseur aus den früheren Erfahrungen, die Sänger aus ihren Aufnahmen, die ihnen Selbstkontrolle in einer Art ermöglichen, wie sie ihnen nirgends geboten wird. Die Filmstreifen gäben schauspielerische Anregungen für alle Zukunft, wo die großen Vorbilder nicht mehr auf der Bühne stehen oder in Konservatorien lehren.

Es möge jetzt in der Zeit des Neuaufbaues des Hauses wie des gesamten Apparats nicht abermals einer seiner wesentlichsten Zubehöre außer acht gelassen werden. Da mit jedem verlorenen Tag weiteres Material entgleitet, möge mit den Vorarbeiten begonnen werden, so daß mit dem Neuerstehen des ruhmbekränzten Hauses auch das Archiv bereits jenen Umfang und Wert besitze, um ein würdiger Spiegel der Tradition wie ein nützlicher Helfer am Fortschritt zu sein!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung