7007741-1987_48_14.jpg
Digital In Arbeit

„Geadelter“ Haß

Werbung
Werbung
Werbung

In einer von einigen hundert Handwerkern besuchten Versammlung gegen die Hausierer nahm 1880 die Unzufriedenheit des Kleingewerbes zum ersten Male eine antisemitische Färbung an. Langsam begann um diese Zeit die Physiognomie des Wiener Antisemitismus sich zu klären.

Im neuen Deutschen Reich hatte der Krieg von 1870/71 der Idee des nationalen Staates ein Ubergewicht sondergleichen verliehen; auch die Judenfrage stand in erster Linie im Gesichtswinkel des Nationalen und ließ keine andere Alternative zu als völlige Assimilierung oder Leugnung der Assimilierungsmöglichkeit. Folgerichtig forderte Eduard von Hartmann, der Philosoph des Unbewußten, mit dem völligen Aufgehen der Juden im deutschen Nationalstaat auch die Ausrottung aller slawischen Minderheiten innerhalb seiner Grenzen und Kampf bis aufs Messer gegen die katholische Kirche.

In Österreich lagen die Verhältnisse insofern anders, als hier, da innerhalb des Antisemitismus eine rein nationale Einstellung nur staatsfeindlich sein konnte, das wirtschaftliche Moment die Führung übernahm. Vor allem in Wien nahm die Bekämpfung der Juden alsbald den Charakter eines christlichen Sozialismus an.

Die verschiedenen Gruppen, die sich 1888 unter dem Namen „Partei der antisemitischen Christen“ zusammenschlössen und einander später aufs äußerste befehdeten, standen wirtschaftlich im wesentlichen auf dem gleichen Boden. Sie wurden, nach Ablehnung ihrer Tendenzen durch die Arbeiterschaft und Festigung der Sozialdemokratie, die Partei des kleinen Mannes, die Partei jener Gruppe von Wirtschaftssubjekten, deren Nahrungsraum die neuen Produktionsformen unerbittlich zerrieben; was diesen kleinen Mann in Wien zum großen Mann machte, war nicht nur, daß er hier überaus zahlreich war, sondern auch, daß er in seinem Konservativismus eine Tradition besaß, die ihm ein Recht gab, sich als Hüter der bodenständigsten Gesinnung anzusehen. Die Klagen dieser Schicht gegen die Konkurrenz der Juden sind oft bis in den Wortlaut hinein die gleichen, mit denen ihre Vorfahren in früheren Jahrhunderten nicht nur ihre Abneigung gegen die. Juden begründeten, sondern auch alle anderen erfolgreichen Bewerber bekämpften; ihr Antisemitismus richtete sich nicht nur gegen die durch Anpassungsfähigkeit, Willensenergie, Anspruchslosigkeit gefährlichen Individuen, sondern auch gegen die Stützen jenes Systems der freien Konkurrenz, durch das sie sich zugrunde gehen fühlten.

Auch für Schönerer, der vor Lueger der populärste Kämpfer gegen den gleichen Moloch gewesen war, ist der Judenpunkt nur allmählich in den Mittelpunkt ^seiner politischen Uberzeugung gerückt; erst aus seinen Kämpfen im Parlament, wo er seine Sache mit Temperament und Heftigkeit verfocht, und aus seinen Erfahrungen mit der großen Wiener Presse erwuchs ihm die Uberzeugung, daß der jüdische Einfluß auf allen Gebieten der eigentliche Feind sei. Noch um 1880 hatte er mit Friedjung und anderen Juden zusammengearbeitet, noch im Programmartikel seiner „Unverfälschten Deutschen Worte“ (vom 1. Juli 1883) die Mitarbeit von Juden, wenn auch keine führende, in der nationalen Auseinandersetzung nicht ausgeschlossen. Erst 1885 hat er den Standpunkt rassenantisemitischer Unbedingtheit erreicht.

Diese Stellungnahme war nicht nur eine Konsequenz der sozialen Blindheit der liberalen Partei, sondern auch eine Anpassung an die Stimmung der Universitätskreise, in denen Schönerer den stärksten Rückhalt und eine maßlose Popularität besaß. Wie so häufig im politischen Feld, lag der Erfolg des Führers vielfach in seiner Unterordnung unter die Geführten.

Schönerer hat aus der grimmigen Intransigenz dieses jugendlichen Enthusiasmus das Rückgrat seiner Bewegung zu machen verstanden; er ist wirklich der Begründer des auf völkischer Grundlage beruhenden Antisemitismus in Österreich geworden, der sich von früheren Stadien der Judenfeindschaft dadurch unterscheidet, daß er die Entscheidung der Frage an die inappellable Instanz des Instinkts verweist und seine Anhänger, denen er eine unüberbrückbare Überlegenheit zum Geschenk macht, mit einem missionärischen Fanatismus ausrüstet, der jede Verunglimpfung des Gegners rechtfertigt, ja adelt.

Wiener Judentum, das von den ältesten Zeiten der Stadt in irgendeinem Maß da war und seit hundert Jahren zu einem beträchtlichen Faktor in ihrem Dasein wuchs, ist ein Stück von Wien. Ob dieses Hineingeratensein der Wiener Juden in den elementaren Lebensprozeß eines ihnen fremden, sie als fremd fühlenden größeren Volksganzen sie, gleich ihren Brüdern im Deutschen Reich, in den Abgrund reißen wird, ist die bange Sorge dieser Stunde; die Weltgeschichte ist weder ein Weltgericht noch ein moralischer Traktat; sie ist der Schauplatz von Kräften, die über die einzelnen wie über ganze Nationen hin-.weggehen.

Völker leben gegeneinander, füreinander, ineinander. Das Wiener Judentum ist vom Uberfluß der schönsten und kulturell reichsten deutschen Stadt gewachsen; es hat hier die größte Fruchtbarkeit entwickelt, die irgendeinem westlichen Judentum beschieden war. Es hat genommen und gegeben, zersetzt und geformt; es hat gelebt und leben geholfen, so daß es ein Teil von Wiens Vergangenheit und damit von Wiens Gegenwart geworden ist. Ohne Juden wäre Wien nicht, was es ist, wie ohne Wien ihr Dasein in den neueren Jahrhunderten seiner stolzesten Seite verlustig ginge. Kein Eingriff der Welt vermag diesen Lebensprozeß rückgängig zu machen. Sofern wir historisch denken, fragen wir nicht, ob er für den einen oder den anderen Teil vorteilhaft oder nachteilig war; nur daß er war und wie er war, leidenschaftslos und wahrheitstreu zu schildern, war die bescheidene Aufgabe.

Geschrieben 1933. Gekürzt aus: „Die Juden Wiens“ von Hans Tietze, Wien 1933. Reprint: Edition Atelier, Wiener Journal Zeitschriftenverlag, Wien 1987.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung