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Gaullismus ohne de Gaulle

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Zahlreiche Kenner der französischen Innenpolitik vertraten seit Jahren die Ansicht, daß ein Gaullismus ohne den Gründer dieser Bewegung undenkbar wäre. Maßgebende Vertreter der Zentrumsparteien wollten wissen, daß sich die gaullistischen Wähler wieder den traditionellen Mittelparteien zuwenden würden, sobald der General die Führung des Staates abgegeben hätte. Aber die sich abzeichnende Front gegen den Nachfolger de Gaulles konnte bisher nicht in die Tiefe der Bewegung Vordringen. Allerdings verstärken sich die Gegensätze in dieser Fraktion. Der gaullistische Mythos wurde in den Kriegsjahren nach dem Zusammenbruch Frankreichs in London geboren.

De Gaulle selbst hat in diesen Jahren keineswegs an die Bildung einer Partei gedacht. Gelegentlich entstand der Eindruck, daß er sich den christlich-demokratischen Volksrepublikanern (M. R. P.) näherte. Nachdem sich der M. R. P. zu einer Koalition mit den Kommunisten und Sozialisten bereit fand, gründete der General 1947 das R. P. F. (Rassemblement du peuple franęais). Als erster Generalsekretär fungierte Jacques Soustelle.

Vor dem 13. Mai 1958 — Putsch der weißen Siedler in Algerien — war der Gaullismus zu einer unbedeutenden Sekte herabgesunken. Eine Parteiorganisation hat zu dieser Zeit nicht mehr existiert. Es war wieder der unermüdliche Jacques Soustelle, der fast gegen den Willen des Generals die U. N. R. (Union pour la Nou- velle Republique) gründete. Soustelle war Informationsminister und sammelte kleine gaullistische Gruppen, deren wichtigstes Ziel darin bestand, Algerien im französischen Staatsverband zu behalten.

Akkord mit „Linksgaullisten”

Nach den ersten Wahlen, 1958, zog die U. N. R. zur Überraschung der traditionellen Parteien mit 202 Abgeordneten in das Parlament ein. Eine organische Bindung zwischen Staatschef und U. N. R. hat niemals bestanden. Es bildete sich die Gewohnheit heraus, daß der vom Staatschef ernannte Ministerpräsident gleichzeitig die Führung der Partei beanspruchte, obwohl als eigentlicher Motor der jeweilige Generalsekretär fungierte.

1962 fusionierte sich die U. N. R. mit der U. D. T. (Union Democratique du Travail). Zum ersten Male wurde die Öffentlichkeit mit den Thesen der „Linksgaullisten” konfrontiert. Ihre Sprecher, Professor Capitant und Valion, fanden Wohlwollen und Unterstützung des Staatschefs. Die Partei wechselte in den letzten Jahren der gaullistischen Herrschaft mehrfach ihren Namen und etikettiert seit Juni 1968 als U. D. R. (Union des Dėmocrates pour la Rėpublique). Im Jänner 1968 wurde der derzeit amtierende Generalsekretär Robert Poujade gewählt, den besonders Ministerpräsident Pompidou förderte. Dem Nachfolger Pompidous, Couve de Murville, ist es nie richtig gelungen, die parlamentarische Vertretung oder den Apparat zu beeinflussen. Nach wie vor bildete der Ex-Ministerpräsident und jetzige Staatschef das Zentrum der Partei. Ein richtiges Parteiprogramm gab es nie. Der Gaullismus erkannte sich in einer „Philosophie der Aktion”. Die U. D. R. sieht sich heute als Staatspartei. Innerhalb der gaullistischen Fraktion bildete sich eine Gruppe „Gegenwart und Aktion des Gaullismus” mit etwa 40 Abgeordneten, diese „Reinsten unter den Reinen”, Valion, Neuwirth (der Schwager de Gaulles), Vendroux, zählen auf den Armeeminister Debrė, der nach wie vor für die strengste gaullistische Orthodoxie eintritt.

Am Rande der Partei wuchern Clubs, Zirkel, Flügel, Fronten. Die ,gaullistische Volksunion” unter Professor Capitant beispielsweise benützt jeden Anlaß, die Regierung Ghaban-Delmas zu verdächtigen.

Republikschützer

Neben diesen Parteiorganisationen und Clubs und der Jugendorganisation U. J. P. existieren noch rätselhafte politische Gebilde, über deren Aktivität die Öffentlichkeit kaum informiert wurde. Die C. D. R (Comitė de la Defense de la Republique) wurde im Mai 1968 begründet. Sie hat die Kundgebung auf den Champs-Elysees am 30. Mai 1968 organisiert, an der fast 1 Million Menschen teilnah- men, und geriet in Gegensatz zu Unterrichtsminister Faure, dessen Konzessionen an die Studenten sie heftig ablehnte. Der Unterrichtsminister wiederum klagte die C. D. R. faschistischer Methoden an. Diese „Republikschützer” halten sich gegenwärtig zurück. Schwer abzuschätzen, welche Rolle sie noch spielen werden.

Der Sicherheitsdienst des Gaullismus S. A. C. wurde 1960 aktiviert und zählt 12.000 Mitglieder, meist ehemalige Legionäre, Geheimagenten und leider auch Verbrecher. Chef dürfte der ehemalige Leibwächter de Gaulles, Comiti, sein, ein Schwager des Staatssekretärs gleichen Namens. Es steht fest, daß die S. A. C. zumindest in Panis Unruhen vorbereitete.

Mögen aber auch noch so viele sehnsüchtig nach Colombey-les-deux- Eglises blicken, der Gaullismus mausert sich doch zu einer konservativen Staatspartei mit sozialreformeri- schem Flügel und gewinnt immer größere Ähnlichkeit mit der britischen Konservativen Partei.

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