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Publizist - Prophet - Politiker

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In der IV. Republik galt er als gefährlicher Rebell und wurde zu den gefürchtetsten Publizisten seiner Generation gerechnet, der die Kolonialpolitik der verschiedenen Regierungen mit unvergleichlicher Schärfe geißelte; als de Gaulle bereits das „Abendrot seiner Herrschaft“ heraufdämmern sah, wurde er der Prophet eines erneuerten und revolutionär modernisierten Frankreichs, das seinen Platz in einem technologischen Europa einnehmen soll; nicht genug mit dem bisher Erreichten, ließ er sich zum Generalsekretär einer einst einflußreichen Partei küren, die von 1871 bis 1940 als Staatspartei schlechthin die Geschicke der Nation leitete: Jean-Jacques Servan-Schreiber.

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In der IV. Republik galt er als gefährlicher Rebell und wurde zu den gefürchtetsten Publizisten seiner Generation gerechnet, der die Kolonialpolitik der verschiedenen Regierungen mit unvergleichlicher Schärfe geißelte; als de Gaulle bereits das „Abendrot seiner Herrschaft“ heraufdämmern sah, wurde er der Prophet eines erneuerten und revolutionär modernisierten Frankreichs, das seinen Platz in einem technologischen Europa einnehmen soll; nicht genug mit dem bisher Erreichten, ließ er sich zum Generalsekretär einer einst einflußreichen Partei küren, die von 1871 bis 1940 als Staatspartei schlechthin die Geschicke der Nation leitete: Jean-Jacques Servan-Schreiber.

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Der Herausgeber des meinungsbildenden politischen Pariser Wochenmagazins „Express“, besser bekannt unter seinen Initialen J.-J. S.-S., betritt die politische Szene in einem Augenblick, da die Wachablöse mit Intensität vor sich geht. Die 30- und 40jährigen drängen die ergrauten Notabein in den Hintergrund — ein Couve de Murville mußte beispielsweise die Zeche zahlen — und die Generation der Polytechnokraten wünscht das Erbe de Gaulles zu liquidieren und anstelle eines antiquierten Paternalismus die zeitgemäßen Formen eines Managements zu finden, wie es aus den USA frisch exportiert durch clevere Absolventen der Verwaltungsakademien in Europa gelehrt wird.

Jean-Jacques Servan-Schreiber stammt aus einer Familie, die sich durch die Herausgabe bekannter Wirtschaftszeitungen und im Journalismus einen Namen gemacht

hat. Die vorzüglich redigierte Wirtschafts- und Finanztageszeitung „Les Echos“ gehört auch heute zur obligaten Morgenlektüre jedes leitenden

Beamten, der Börsenmakler und der Direktoren von Mittel- und Großbetrieben. Nach Beendigung seiner Studien zeichnete sich J.-J. S.-S. als politischer Kommentator aus. Seine Leitartikel in der Zeitung „Le Monde“ müssen selbst heute noch von Historikern gelesen werden, welche die Probleme der werdenden IV. Republik studieren. Mit 29 Jahren gründete er seine eigene Zeitschrift „Express“, die sich politisch engagiert gebärdete und das Sprachrohr des unbestrittenen Denkers der

nichtkommunistischen Linken, Men- dės-France, wurde. „Express“ bewies beachtlichen Mut, als er die Mißstände im damaligen französischen Algerien aufzeigte und mit der hohen Generalität in Konflikt geriet

Diese militärischen Exzellenzen kannten ein probates Mittel, um den unbequemen Kritiker zum Schweigen zu bringen. Er wurde einberufen und mußte zeitweise in Algerien den von ihm verurteilten Kolonialkrieg erleiden. Als Frucht dieser Begegnung mit einer harten Realität entstand das bemerkenswerte Buch „Leutnant in Algerien“, das weite Kreise der Pariser Intelligenz, besonders der Katholiken zum Nachdenken bewegte. Der Nobelpreisträger Mauriac feierte das Erscheinen dieser Memoiren als nennenswerten Beitrag, um die Pazifizierung Algeriens in die Wege zu leiten.

J.-J. S.-S. vergaß vorläufig seine politischen Aspirationen und widmete seine ganze Energie dem Aus- und Aufbau der Zeitschrift „Express“, der er trotz zahlreicher Warnungen und wohlgemeinter Ratschläge das Format von „Time“ oder „Spiegel“ gab. „Express“ wurde sicherlich ein bedeutender Erfolg unter den politischen Publikationen Frankreichs. Die wöchentliche Auflage wird mit mehr als einer halben Million angegeben. Servan-Schreiber editiert seit kurzem auch das Wirtschaftsmagazin „Expansion“, das, nach dem Modell von „Express“ aufgemacht, im wesentlichen durch Abonnements zu beziehen ist.

Von der Basis seines politischen Magazins ausgehend, versuchte der Herausgeber in den Jahren 1963 64 die nichtkommunistische Linke durch eine Koalition zwischen der sozialistischen S. F. I. O. und den Katholischen Volksrepublikanern, MRP, zu einigen. Zuerst unter dem Pseudonym Monsieur X enthüllte er den wahren Kandidaten für eine neugeordnete sozialdemokratische Partei Frankreichs in der Person des Bürgermeisters von Marseille, Gaston Defferre. Die Verhandlungen scheiterten an Differenzen über Laizität und Subvention an die katholischen Schulen. Gaston Defferre zog sich verärgert zurück.

Der MRP trat den Winterschlaf an, die S. F. I. O. flirtete mit den Kommunisten, und J.-J. S.-S. ging unter die Propheten. Ihm gelang es, den Bestseller eines Jahrzehnts zu verfassen: „Die amerikanische Herausforderung.“ Wie mag das Herz des Verfassers fröhlich pochen, wenn er von der Traumauflage dieses Werkes mit 700.000 allein in Frankreich spricht. Der Verfasser wollte Europa warnen, daß unser Kontinent seine zukünftige Spitzenindustrie, besonders die Elektronentechnik, den USA ausliefere. Servan-Schreiber meint, daß nicht Japan oder die Bundesrepublik am Ende des Jahrzehnts die 3. Wirtschaftsmacht des Planeten darstellt, sondern die amerikanischen Großkonzerne im EWG-Raum. Trotz dieses unerhörten Erfolges konnte Servan-Schreiber nicht von seiner politischen Leidenschaft ablassen und wurde ein Vertrauter des Senatspräsidenten Poher, den er aktiv und mit vortrefflichen Argumenten im Wahlkampf gegen Pompidou stützte.

Nach der Auflösung der demokratischen und sozialistischen Föderation wurde die radikalsozialistische Partei im Parlament praktisch heimatlos. Sie gab sich in der Person des dynamischen Maurice Faure (nicht mit Edgar Faure zu verwechseln!) einen neuen Präsidenten und trug Servan-Schreiber das Generalsekretariat an, das dieser nach einigem Zögern annahm. Obwohl er die Zeitschrift „Express“ einem Herausgeberkollegium übermittelt hat, bleibt er weiterhin Meister in seinem Haus und verfügt dadurch über eine ausgezeichnete publizistische Ausgangsbasis.

J.-J. S.-S. ist energievoll, reich an Ideen, mit modernsten Methoden des Managements vertraut und wird neben dem Generalsekretär der Vereinigten Sozialistischen Partei (PSU), Michel Rocard, ohne Zweifel dem nachgaullistischen Frankreich neue Akzente setzen.

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