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Nach Gaitskells Tod

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Als vor fast 14 Tagen die Nachricht kam, Hugh G a i t s k e 11, der Führer der Opposition im britischen Unterhaus, sei an einer Virusinfektion erkrankt, dachte niemand an etwas Ernstes. In den ersten Tagen hieß es daher auch nur lakonisch, daß der Patient offenbar an Grippe leide und kein Anlaß zur Sorge sei. Zur harmlosen Grippe traten Rippenfell- und Lungenentzündung. Dennoch schien es noch Mitte letzter Woche, als ob Gaitskell die Krise überstanden hätte. Es sollte anders kommen. Mittwoch und Donnerstag sprachen die Ärzte des Middlesex-Spitals unweit Londons von einer „sehr ernsten Situation, falls sich nicht in den nächsten 24 Stunden der Zustand wesentlich bessern sollte“. Freitag nacht hatten neun Ärzte, 40 Spezialisten und Techniker sowie eine künstliche Niere eine Schlacht verloren: Hugh Gaitskell ist, 56 Jahre alt, gestorben, nach Ansicht vieler innenpolitischer Kommentatoren „an der Schwelle zum Haus Downing Street Nr. 10“, dem traditionellen Wohnsitz des britischen Premierministers.

Der Tod bringt nicht nur der Familie des Politikers Trauer. Er raubt den englischen Sozialisten einen im Volk angesehenen Führer und ändert die innenpolitische Lage völlig. Vor dem Tode Gaitskells war die Rede von der hohen Wahrscheinlichkeit eines sozialistischen Sieges in der künftigen Parlamentswahl. Jetzt ist alles wieder ungewiß. Die Chance der Labour Party, die kommende Regierung zu stellen, dürfte dahin sein. Die Konservativen als regierende Partei verfügen noch immer über eine beachtliche Mehrheit im Unterhaus, ihr Kredit im breiten Publikum ist in der letzten Zeit nur zum Teil erschüttert worden. Hugh Gaitskell hat es immerhin verstanden, die Labour Party und die breite Masse die große Wahlniederlage vom Jahre 1959 in erstaunlich kurzer Zeit vergessen zu lassen. Er entfernte einige extreme Linke, wie zum Beispiel Michael Foot, sicherte der Partei eine von den Gewerkschaften unabhängige Existenz und setzte sich immer wieder für eine Verjüngung des Parteiapparates sowie der Kandidaten für das Parlament ein. Stets versuchte er in seinen Reden an die Vernunft und nicht an die Gefühle seiner Zuhörer zu appellieren.

Sein Weg führte auch über Wien

Diese bei erfolgreichen Politikern bemerkenswerte Eigenschaft braucht nicht zu überraschen. Hugh Gaitskell, der aus einer Offiziers- und Beamten-

Familie stammt, besuchte die berühmte Public School Winchester, die in Großbritannien wegen ihrer hohen intellektuellen Anforderungen bekannt ist, setzte seine Studien am New College von Oxford fort und wurde schließlich Dozent für Nationalökonomie an den Universitäten Nottingham und London. Im Jahre 1938 ist er zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt worden, nachdem er 1934 ein Rockefeller-Stipendium erhalten hatte, um in Wien einige Aspekte der Kapitaltheorie zu studieren. Schon damals sagten Wiener Bekannte dem jungen Gaitskell eine glänzende politische Laufbahn voraus.

Er lernte Wien nicht von seiner charmanten Seite kennen. Er sah das Wien des Bürgerkrieges sowie des Na-tionalsozialistenputsches. Auf seinen Reisen in Mitteleuropa, die mit diesem Wiener Aufenthalt verbunden waren, sah er jedoch mehr. Er erkannte die Notwendigkeit einer britischen Aufrüstung und predigte sie seinen Landsleuten in Wort und Schrift. Dann kam der Krieg. Gaitskell trat wie so viele Universitätslehrer in den Staatsdienst ein und zeichnete längere Zeit für die Preiskontrolle verantwortlich. Infolge der ständigen Überarbeitung erlitt er 1945 einen Herzinfarkt. Dies hinderte allerdings seinen Wahlkreis in Leeds nicht, ihn mit einer großen Mehrheit (12.000) in das Unterhaus zu wählen.

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