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Versuche zur geistigen Besinnung

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„Bekenntnis zu Gegenwart“ ist der Titel eines dieser 30 Essays, und er könnte, gewissermaßen als Motto, der ganzen Sammlung vorangestellt werden. Denn obwohl der Autor die empfindlichen Stellen, die neuralgischen Punkte unserer Zeit untersucht, verstärkt er keineswegs den Chorus der Kulturpessimisten, sondern er stört — im Gegenteil! — deren „traurige Feste“ und die „Kulturkaterstimmung“ durch sehr gewichtige Argumente zugunsten der vielgelästerten Gegenwart. E# geht hierbei nicht um Gefühle, wie Optimismus oder Pessimismus, sondern um die Erkenntnis, daß Licht und Schatten gleichermaßen gewachsen sind. „Das Thema der europäischen Krisis ist in das Stadium einer fatalen und höchst fragwürdigen Popularisierung getreten.“ Aber wirkliche Krisenzeiten pflegen sich meist nicht selbst als solche zu erkennen. Und während zum Beispiel der Nihilismus Feuilletongespräch geworden ist, sieht es im Raum wirklicher geistiger Entscheidungen schon ganz anders aus. Horst Krüger erkennt „eine Fülle von Zeichen innerer Stabilisierung und geistiger Erneuerung“ auf fast allen Gebieten unserer Kultur: in Philosophie und Naturwissenschaft, Dichtung und Theologie. Warum soll uns die Zukunft — nach dem Triumph der Technik, der Emanzipation der Frau, der Befreiung des Arbeiters und dem Jahrhundert des Kindes — nicht eine Renaissance der ethischen und religiösen Werte bringen? Diese klugen und positiven Gedanken eines etwa 30jährigen, der an einer wichtigen und weithin wirkenden Stelle des deutschen Kulturlebens tätig ist, können gleichfalls als positives Zeichen unserer Zeit gewertet weiden.

Die kurzen Betrachtungen in Essay-Form, deren Summe ein Kompendium der Gegenwartsfragen ergibt, sind in drei Kreisen angeordnet: „Im Angesicht der Zeit“, „Im Umkreis der Kunst“ und „Im Horizont des Absoluten“. Hören wir einige Fragen und Antworten, Stimmen der Zeit und Argumente des Autors. Ist die Angst wirklich die letzte Sprache, in der sich noch alle Völker der Erde politisch verstehen? Und hat sich nicht der Fortschrittsglaube der Technik in Katastrophenerwartung gewandelt? Aber es sind auch „tiefste religiöse Kräfte aufgebrochen, Töne urchristlicher Heilssorge wachgeworden“, und das Zeitalter der Angst kann zur Geburtsstunde eines neuen Menschen werden. Geht das Abendland unter? Vielleicht als „Kulturkreis“ im Speng-lerschen Sinn. Aber es geht über als bestimmendes Ferment in die kommende Weltkultur. — Was bedeutet die Wiederkehr des Teufels in der zeitgenössischen Dichtung, bei Mauriac und Bernanos, in Thomas Manns großem Alterswerk „Doktor Faustus“, bei Elisabeth Langässer und Gertrud von Le Fort? — „Die Religionswissenschaft, auf dieses Problem hin befragt, weiß uns hier sehr geheimnisvolle Gesetzlichkeiten anzudeuten. Lange bevor ein Gottesglaube stirbt, stirbt der Glaube an die Wirklichkeit des Teufels. Während die Idee Gottes noch immer als fernes Richtbild über einer Kultur steht, ist, wie etwa im 18. Jahrhundert, die Gestalt des Teufels bereits in den Unernst des Aberglaubens, des Kinder- und Narrenschrecks abgesunken ... Aber genau so auch umgekehrt: die Geburt einer neuen Religiosität beginnt, wie uns die Religionswissenschaft lehrt, nicht mit der Geburt Gottes, sondern mit der des Satans. Lange bevor ein Gottesglaube stark und' übermächtig erwacht, erhebt sich zuerst die Gestalt des Widersachers und überschattet mit ihren dunklen Flügeln dämonisch den Horizont der Zeit ... Wo man aber erst einmal vom Teufel spricht, wird man auch nicht auf die Dauer von Gott schweigen können“ (S. 113 bis 114). Eine andere Frage: Sind nicht unsere Städte Stätten der Entmenschlichung, tragen sie nicht dämonische Züge? Gewiß, aber sie bringen auch neue Lebensstrukturen hervor, in ihnen geschieht unsere Geschichte, sie sind die HerzkammernN unserer Kultur. Da gibt es kein „zurück zur Natur“, hinaus aufs Land! Die Stadt — wir müssen auch sie bestehen. „Sie ist Majestät und Abgrund in einem und in beidem: eines der großen Symbole unserer menschlichen Existenz.“

Doch möge durch diese Zitate nicht der Eindruck entstehen, als sei der Autor einer jener „Har-monisten“, die auf die schwierigsten Fragen die einfachsten Antworten zur Hand haben. Sein scharfer und vorurteilsloser Blick sieht auch die Schwächen, Verzerrungen und kranken Stellen der Zeit. Was geschieht zum Beispiel in den großen Arenen des Sports? An die Stelle des aktiven Sportvollzuges ist der passive Sportgenuß, der Nervenkitzel getreten. „Hier geschieht Erschütterung, ein fast dämonischer Aufbruch der Tiefen.“ Denn wo der Mensch sich nicht mehr einem Oberen hingeben will, huldigt er den unteren Kräften. Sport als Religionsersatz: das bedeutet auch eine Pervertierung seines ursprünglichen Zweckes und Sinnes: Körperhygiene wird Opiat der Kollektivseele. — Mit erfreulicher Unbefangenheit wird auch Freuds gewaltiger Einfluß gesehen und abgewertet, indem dessen innere Beziehungslosigkeit zur Kultur und den Geisteswissenschaften aufgedeckt wird. Auch hier fand eine „Pervertieiung“ statt, denn Freud und seine Schüler maßten sich an, aus Fachwissen Weltanschauung, aus Naturwissenschaft Metaphysik und aus Forschungsergebnissen einen neuen Glauben zu machen. Aber wurden die Tiefenpsychologen und Analytiker nicht von der zeitgenössischen Philosophie im Stich gelassen, die keine Ontologie mehr kannte? — In den Essays über Psychothera-p i e und Seelsorge sowie in der Meditation über die Liebe klingen Gedanken Viktor Frankls an, und der Leser freut sich, dessen Hauptwerk auch angeführt zu finden. Wer reichhaltiges Material über den Themenkreis „Künstlertum und Krankheit“ sucht, sei auf das ausgezeichnete Buch von Lange-Eichbaum („Genie, Irrsinn und Ruhm“) hingewiesen.

Da Horst Krüger auch so ernste und schwierige Themen, wie „Christ und Krieg“, „Der Arzt vor dem LTnhei Ibaren“ und „Die Gestalt des Leidenden“ in der Kurzform des Essays bewältigt, stimmen wir gern mit ihm in das h$b dieser vielverkannten und mißbrauchten literarischen Gattung ein, als deren Meister und Erneuerer sich der Autor erweist. Der Essay will nicht Wissen, sondern Wahrheit aus schöpferischer Erfahrung vermitteln. Diese seine Wahrheit stellt er gewissermaßen waffenlos und unbegründet in den freien Raum — und gleicht darin dem Gedicht. Zwischen Kunst und Geist ist er eine Form der Mitte, zugleich in seiner Unvollkommenheit, im Wagnis der Erkenntnis, in seiner Tapferkeit und Bescheidung, „eine Grundfigur, das Modell menschlicher Existenz“.

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