7022844-1988_51_16.jpg
Digital In Arbeit

In der Gegenwart

Werbung
Werbung
Werbung

Da stehen sie, die Kirchen in der Christnacht, flackerndes Licht hinter den schmalen Fenstern, und in den Orgeln die Spannung der bald erklingenden Musik. Sie sind Gehäuse eines Wunders, das leicht verständlich ist und unbegreifbar bleibt. Noch ist es der Glaube, der uns bewegt, aufzubrechen, die Kirche zu besuchen, vielleicht auch die Frömmigkeit, die Freude an der Gemeinschaft, das Bedürfnis, dem uralten Brauch zu folgen. Was sich dann während der Mette ereignet, ist das Geheimnis dieser Nacht.

Wir alle kennen diesen Augenblick der Sehnsucht und des Leids, der Läuterung, der Scham und der Erfüllung. Er verfliegt wie die anderen Sekunden, doch schafft er Frieden. Die Außenwelt hat ihr Gewicht verloren, die Innenwelt wird als etwas Lichtes und Leichtes spürbar, wir befinden uns gleichsam in einer Gegenwelt: die Seele hat den stets ersehnten und wundersamen Zustand der Balance.

Die Ruhe ist freilich nicht von Dauer. Sobald wir heimgekehrt sind zu uns selbst - und damit auch zum geistigen Wesen, das uns mit der Ewigkeit verbindet—, rühren sich die Kräfte unseres Menschseins: Die Wahrnehmung lenkt die Aufmerksamkeit auf neue Ziele, die Erinnerung läßt versunkene Weiten auferstehen, auch die gewohnte Kleinteiligkeit des Lebens stellt sich ein. Und doch bleibt jener Augenblick nicht ohne Spuren. Etwas hat sich verändert. So vermehren sich unmerklich die Jahresringe unseres Lebens.

Das Gefühl, das in jener Sekunde aufbricht, hat schwere Erdschichten, ganze Versteinerungen der Gewohnheit durchstoßen müssen. Denn wir haben uns aus Angst vor der inneren Leere, auch aus Existenzangst, mit schweren Brocken der zivilisatorisch wohlgeformten, zweckdienlichen, hübsch angeordneten Materie umgeben, unseren Blick auf Dinge in Bewegung geheftet, an unser Trommelfell den Singsang einer sinnentleerten Monotonie herandringen lassen, unser Geruchsorgan an Auspuffgase und an die tausendfachen Ausdünstungen der technisierten Kloaken längst gewöhnt.

Wir haben uns von der Schöpfung — und von der eigenen Natur — so weit entfernt, daß wir Wald und Wiese in den Mittelpunkt eines neuen Kultes stellen, unsere Seele der Wissenschaft und unser Schicksal der allgemeinen Wohlfahrt anvertrauen. Wir haben das Unermeßliche durch das Meßbare, den Gedankenaustausch durch den Austausch von Informationen, die Höhenflüge des Geistes durch Management ersetzt.

Ein solcher Absturz in die seelische Tiefe bei gleichzeitigen Hochleistungen materieller Könnerschaft ist der Menschheit nicht fremd. Auch frühere Epochen, zumal in Europa, haben sich redlich bemüht, sich vom Geist zu lösen; Nostalgien sind hier fehl am Platz.

Wir aber haben auf dem Gebiet des Materialismus eine bisher höchstens fiebrig ersehnte Perfektion erreicht und wundern uns nun, daß unsere riesenhaften, aus dünnem und schnell rostendem Blech geformten Gebilde bei der leisesten Berührung hohl klingen und daß wir - gewissenhaften Archäologen gleich — Schicht um Schicht abtragen müssen, um irgendwo unter all den Ablagerungen unserer famosen Zivilisation den eigentlichen Kern der Existenz und in ihm das kleine flak-kernde Lichtlein unseres flüchtigen und ewigen Daseins zu entdecken.

Freilich: Wir besitzen Kopfwehpulver, Flugzeuge, tiefgefrorene Speisen, eine Television, Surfbretter, Computer und vollmechanisierte Hosenfabriken, und unsere künstlichen Sterne fliegen durch das Weltall. Aber die große Ausdehnung hat innere Verdünnung zur Folge; je größer die Reichweite, umso geringer die Substanz. Wir wissen und können mehr als die Menschen früherer Zeiten. Sind wir auch glücklicher?

Zwischen Sein und Schein

Die Christnacht ist frei von kulturphilosophischen Fragen dieser Art. Jener Augenblick der Sehnsucht und des Leids, der Läuterung, der Scham und der Erfüllung läßt das Gefühl aufbrechen, eine Emotion, die alle Zweifel, all das Unbehagen, das wir angesichts unseres Tuns längst empfunden haben, auch unseren Trübsinn angesichts des Mißverhältnisses zwischen dem offensichtlich Erreichten und der eigenen inneren Unruhe, in sich vereint. In einer einzigen elementaren Regung durchbricht die Seele alle Bindungen zum hic und nunc, und für einen Augenblick — vielleicht nur für den Bruchteil eines Augenblicks—erahnen wir unsere geistige Existenz in einem größeren göttlichen Sein. Wir sehnen uns nach der Grenzenlosigkeit, die uns, Geschöpfen der Erde, nicht gegeben ist, wir leiden an den fadenscheinigen Erfolgen unserer Leistungsfähigkeit, wir ahnen, was wir sein könnten, und empfinden beschämt, was wir in Wirklichkeit sind, aber etwas in uns drängt trotz allem auf eine Erfüllung, die den Geist betrifft.

Die Symbolik der Christnacht, auch deren Wirkung, wäre rationalistisch zu deuten: Wir sind durch das Mysterium der Geburt und des Todes bewegt, sehen im Säugling den gekreuzigten Mann und empfinden angesichts des Zusammenhangs zwischen der Frohen Botschaft und dem Tod am Kreuz unser eigenes Dasein zwischen Wiege und Grab. Doch kann die Vernunft die Parabel des zum Menschen gewordenen Gottes nicht restlos fassen und das Wunder von Bethlehem nicht entziffern. Hier waltet noch etwas Zusätzliches, und gerade dieses ist das Wesentliche. Was wir spüren, ist die Möglichkeit, ja die Gewißheit der Erlösung.

Die Tage und Wochen vor Weihnachten sind vom Gewerbe und vom Handel, aber auch von der materialistischen Art der Nächstenliebe völlig säkularisiert worden. Die Zeitungen bringen Meldungen über die Tendenzen des Geschäfts, und wir selbst denken bei der Auswahl der Weihnachtsgeschenke oft weniger an den Beschenkten als an die Demonstration unseres ach so originellen Geschmacks. Gerade die Tage vor dem Fest sind dazu geeignet, die spirituelle Substanz in den Untergrund zu verdrängen. Vielleicht ist die Gegenbewegung des Empfindens deshalb so stark. Vielleicht fühlen wir alle: Weihnachten ist nicht nur das Fest der Geschenkeverteilung, sondern vor allem ein Augenblick der Hoffnung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung