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Die Güte erfahrbar machen

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Dieser Satz stammt aus einer Zeit schwerer Krisen, die vor allem die Kirche heimsuchten. Einige Jahrzehnte nach dem Wirken Jesu hatte man die Orientierung verloren, es fehlten echte Leitbilder und Persönlichkeiten in den einzelnen kirchlichen Gemeinden; so begann man sich auf die großen Autoritäten der Gründerzeit zu besinnen, auf die Apostel und Jünger des Herrn.

Eine solche Rückbesinnung auf Grundwerte, auf Persönlichkeiten und entsprechende Leitideen kann auch der heutigen Zeit nicht schaden, da wir einer gründlichen Neuorientierung bedürfen. Wir stehen unmittelbar vor dem Fest der Menschwerdung des Gottessohnes, das uns selbst ständig verwandeln sollte in Geschöpfe aus Fleisch und Blut, Gemüt und Herz, in echte Menschen. Dieser Gedanke liegt jedoch für viele unter einem Berg von Päckchen, Ge-schäftemachereien, Äußerlichkeiten und vielen egoistischen Reaktionen begraben.

Welche Güte ist denn da erschienen, wenn von ihr kaum mehr etwas zu spüren ist? Sie ist erschienen, aber auch schon damals ganz im Verborgenen, in einem Stall, in den Herzen einfacher Menschen, jedoch nicht in der Szenerie einer sensationslüsternen Öffentlichkeit.

Für viele hat das Wort Güte keinen guten Klang; sie identifizieren sie mit Schwäche und Nachgiebigkeit. An deren Stelle setzten sie andere Haltungen wie Selbstbehauptung, Selbstentwurf in Freiheit, Eigenständigkeit und Durchsetzungsvermögen. Sie merken dabei gar nicht, wie ihr Gesicht immer ausdrucksloser wird, innere Freude dahinschwindet und Kontakte zunehmend schwieriger werden. Sie meinen aber immer noch, besonders diplomatisch zu sein, wie sie es ferner verstehen müßten, den Nächsten geschickt hinters Licht zu führen, ihn vielleicht sogar auszuschalten oder für eigene Zwecke zu mißbrauchen.

Wie viele suchen den anderen nur auf, weil sie etwas von ihm wollen, wie viele geben Geschenke aus reiner Berechnung? Wie viele Geschenke werden wirklich selbstlos, aus reiner Zuneigung und Güte, ohne irgendwelche Nebengedanken gegeben? Und auf der Gegenseite: Wer argwöhnt nicht im geheimen, daß es der Schenkende vielleicht doch nicht so ehrlich meint?

Kinder sind sehr häufig das Spiegelbild der Erwachsenen, nicht selten das Urbild. Werdet wie die Kinder!

Wer kennt diese Aufforderung Jesu nicht? An diesen kleinen Geschöpfen läßt sich vieles sehr unmittelbar studieren: die Freude über ganz unscheinbare Zeichen der Zuneigung, aber genauso die Abhängigkeit von freundlichen Blicken, von der Liebe der Eltern. So ein Kind kann durch mangelnde „emotionale Zuwendung“, wie man heute etwas modisch zu sagen pflegt, seelisch zerstört werden.

Sind wir selber nicht genauso dankbar für zuvorkommende Behandlung, für Anerkennung, Verständnis und Nachsicht? Wie kann ein Tag plötzlich anders werden, wenn etwas in unser Gemütsleben einbricht, was ganz unvorhergesehen da ist?

Verkümmern diese wertvollen Grundkräfte unserer Persönlichkeit, ernten wir traurige Früchte eines eher freudlosen Daseins. Denken und Tun werden durch eine verzweckte Business-Haltung bestimmt. Der Mensch wird, ehe er es merkt, zum phantasielosen Roboter.

Wie erfahren wir heute noch diese göttliche Güte, von der zu Weihnachten so oft die Rede ist? Gott selbst scheint ja ein grausames Wesen zu sein, das sich sehr wenig um die Menschen kümmert. Die vielen Leiden dieser Zeit haben zum Teil ein unerträgliches Ausmaß erreicht: ein erschreckend großer Teil der Erdbewohner hungert, geht an verschiedensten, nicht selten leicht heilbaren Krankheiten zugrunde. Millionen befinden sich auf der Flucht vor Krieg, Terror und entsetzlichen Grausamkeiten.

Kann man für all das Gott haftbar machen? Wird nicht selten Gott zu einem Prügelknaben vieler Formen menschlichen Versagens degradiert? Sollte man nicht eher einmal die Frage ganz anders stellen: Wirkt Gott nicht vielleicht deshalb so wenig, weil wir ihn gar nicht zum Zuge kommen lassen? Wie kann göttliches Wirken für den erfahrbar werden, der sich selbst zu einem Gott — besser: zu einem „Götzen“ erhebt?

Immer häufiger wird die Ansicht vertreten, daß die grauenhaften Katastrophen dieses Jahrhunderts mit ihren weltweiten Vernichtungskriegen.Konzentra-tionslagern, mit ihrem ekelerregenden Rassenwahn und zahlreichen anderen Entgleisungen nur auf dem Umstand beruhen, daß man Gott für tot erklären wollte: „Gott ist tot, und wir haben ihn gemordet!“ Wäre es da nicht angebracht, menschlichen Heilsplänen gegenüber äußerst skeptisch zu sein?

Der Ewige in uns

Wie könnte nicht wirklich alles anders werden, wenn man einmal Gott wirken ließe, jenen Gott, den wir aus der Heilsgeschichte kennen? Es gibt ja, Gott sei Dank, Menschen, aus deren Augen die Güte und Liebe Gottes leuchtet, Menschen, die mit all ihren Kräften gut zu sein trachten.

Diese gesunden, heilen, „heiligen“ Menschen müssen sich nicht in leitenden Funktionen befinden; sie sind überall, in allen Schichten der Gesellschaft zu entdecken.

Wenn es für Christen der heutigen Zeit einen wesentlichen Sendungsauftrag gibt, dann den, mit ganzer Kraft mitzuhelfen, die Bosheiten einer gottlosen Welt abzubauen und den Menschen die Güte Gottes erfahrbar zu machen. Es geht dabei um eine ganz andere Lebensqualität: um keine bloß soziale oder humanitäre, sondern um eine „gesamtmenschliche“, die alle Dimensionen unseres Daseins umfaßt, die mit Freude und Glück genausoviel anzufangen weiß, wie mit Leid und Tod. Jeder Einsichtige ist aufgefordert, gleich dort zu beginnen, wo er gerade steht; nicht erst morgen oder irgendwo, sondern hier und gleich. Hic et nunc!

Güte gibt es nur dort, wo der „Grund und Boden“ einmal gut ist. Unser „Grund und Boden“ ist das göttliche Geschenk unserer inneren Qualitäten, des „Ewigen in uns“! Darauf muß man sich einmal besinnen. Dazu braucht man allerdings Zeit und Ruhe. Ohne sie wird der Mensch immer fahriger, hektischer, gereizter, immer „böser“. Güte hat sehr viel mit Ruhe und Ausgeglichenheit zu tun.

Der Fromme ist kein Heuchler, sondern jemand, der realistisch genug ist, sein Sinnen und Trachten auf bleibende Werte, auf unser letztes Ziel, auszurichten. Man sollte auch „üben“, Askese betreiben, um nicht Beiläufigem, Oberflächlichem aufzusitzen.

Weihnachten steht unmittelbar bevor, das Fest der Hektik, des Kommerzes, erstarrten Brauchtums und der Sinnentleerung. Könnte es nicht heuer einmal anders werden? Könnte es nicht jener Tag werden, an dem wir die erfahrene Güte Gottes dem Nächsten weitergeben?

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