Diktatur des Betrachtens

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Die 50. Biennale von Venedig zeigt Positionen zeitgenössischer Kunst: verwirrend vielschichtig, manchmal beliebig, immer wieder außergewöhnlich.Thema: "Dreams and Conflicts: The Dictatorship of the Viewer".

Im gesteckt vollen Vaporetto fährt man den Canal grande entlang. Endlich wieder in Venedig. Was für ein Glück, dass das Großereignis des heurigen Kultur-Sommers im "schönsten Salon Europas" stattfindet, wie bereits Napoleon die Stadt charmant charakterisierte.

Zum 50. Mal reisen Interessierte aus aller Welt an, um sich ein Bild der zeitgenössischen Kunstszene zu machen. Wie 1895, als die Biennale, die älteste Schau zeitgenössischer Kunst (die Documenta wurde erst 1955 gegründet), über die Bühne ging. Damals dominierte allerdings noch die Frage nach der künstlerischen Charakteristik eines Landes - ein Aspekt, der in Zeiten der Internationalisierung der Kunstszene ins Hintertreffen geraten ist.

Die Fahrt führt an den Renaissance-Palästen und an der unverkennbaren Barockkirche Santa Maria Salute vorbei, ein Meisterwerk Baldessare Longhenas. Nichts weist auf die Gegenwart hin. Schon gar nicht auf Gegenwartskunst. Einzig Transparente machen auf die Mega-Schau aufmerksam: "Träume und Konflikte: Die Diktatur des Betrachters" hat der neue künstlerische Leiter Francesco Bonami die Jubiläums-Ausstellung betitelt und im Vorfeld verkündet, er wolle "die Figur des Besuchers neu definieren". Ein großes Versprechen. Aber schließlich gilt es für jeden neuen Direktor sich abzugrenzen. Der 47-jährige Florentiner mit Wohnsitz Chicago hat es tatsächlich nicht leicht gehabt. Sein Vorgänger, der zweimalige Biennale-Chef Harald Szeemann, hat die Latte hoch gesteckt. Vor zwei Jahren beeindruckte er mit der stimmig inszenierten Themenschau "Plateau der Menschheit" Kritiker und Publikum.

Plurale Positionen

Im Unterschied zu Szeemann hat Bonami die Themenschau aufgesplittert und elf Unterkuratoren beauftragt, künstlerische Positionen zusammenzusuchen. Der pluralistische Ansatz ist zwar sympathisch, wird sich bei der Besichtigung der einzelnen Sektionen im Arsenale, wo der Großteil dieser unterteilten Themenschau stattfindet, als verwirrend, beliebig und wenig überzeugend erweisen. Besonders die von Bonami selbst kuratierten Sektionen "Blinde Passagiere" und "Träume und Verzögerungen" können mit Szeemanns sinnlicher Gesamtzusammenstellung vor zwei Jahren keineswegs mithalten. Eindrucksvoll ist hier vor allem die von dem in Paris lebenden chinesischen Kurator Hou Hanru kuratierte Abteilung "Notstandsgebiet". Die Sammelschau asiatischer Künstler vermittelt in einer unglaublichen Dichte, Intensität und Lautstärke die Problematik der megalomanen Großstädte. Die Malereiausstellung im Museum Correr "Von Rauschenberg bis Murakami" am Markusplatz - für die ebenfalls Bonami verantwortlich zeichnet - präsentiert sich vom Konzept her als brave Schulausstellung der Malerei nach 1945, kann aber durchaus mit einigen ungewöhnlichen Bildern aufwarten. Das Beste daran ist, dass sich nach einer Dürrephase wieder einmal zeigt, dass die Malerei doch nicht tot ist. Dass es junge Maler gibt, die sich behaupten können - wie die 1970 in Cambridge geborene Jenny Saville, die sich mit einem Porträt eines Menschen am Krankenbett genauso einprägt wie die Italienerin Margherita Manzelli mit dem seltsamen Gemälde eines Mädchens auf einer abstrakten Bildfläche.

Im Hauptareal der Biennale, den Giardini, beginnt der Parcours durch die Länderpavillons. Vor Beginn des Rundgangs hat sich eine Reihe von Fragen aufgetan: Werden sich auf der heurigen Biennale Künstler finden, die zentrale gesellschaftliche Probleme wie Migration, Globalisierung, Genmanipulation in einer unverkennbaren künstlerischen Sprache behandeln? Gibt es Positionen, die stets aktuelle humane Themen wie Tod, Gewalt und Lust aus heutiger Sicht auf den Punkt bringen? Und gibt es solche, die, Konzept und medialen Einsatz betreffend, die Kunstgeschichte ein wenig weiterschreiben? Gleich vorweg: Es gibt sie. Wenn auch nicht allzu dicht gesät. Wie häufig bei Großereignissen zeitgenössischer Kunst ist man insgesamt enttäuscht, zugleich aber von einigen künstlerischen Arbeiten ausgesprochen angetan. Sie hinterlassen nachhaltigen Eindruck und entschädigen für manche Beliebigkeit, die selbst eingeweihten Kunstprofis Gegenwartskunst manchmal verleidet.

Tod, Gewalt und Lust

Insgesamt zeigt sich, dass besonders jene Arbeiten herausragen, die starke Aussagen wagen. Die sich nicht davor fürchten, Inhalte in ihre Kunst zu verpacken. Und: Ob Zufall oder Sichtweise der Autorin - die interessantesten Arbeiten stammten von weiblichen Kunstschaffenden.

Ein absolutes Highlight findet sich in dem medial erstaunlich wenig gefeierten israelischen Pavillon. Dieser kristallisierte sich als eine der stimmigsten Präsentationen heraus, die den Goldenen Löwen mindestens genauso verdient hätte wie der luxemburgische Pavillon. In einer die Außenwand und das zweistöckige Innere des Pavillons einbeziehenden Arbeit befasst sich die in Israel geborene und jetzt in New York lebende Künstlerin Michal Rovner unter dem Titel "Against Order? Against Disorder" mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Biotechnologie, auch mit der Spannung zwischen dem Einzelnen und der Masse. In einer mehrteiligen Videoinstallation zeigt sie in einer reduzierten Bildersprache Menschenketten, die sich gleichförmig bewegen und Formationen bilden, die wie Zellen aussehen. Das Zentrum der Arbeit sind kleine, runde Glasflächen in Tische eingesetzt - bekannt aus Biologie-Labors - die sich ebenfalls als Videoflächen erweisen und auf denen Menschen zu Mikroorganismen mutieren. Sars, die Beziehung von Mikro- und Makrokosmos, Biowaffen - all dies schwingt in Rovners Werk mit, ohne dass es explizit angesprochen wird.

Kunst und Bioethik

Unter die Haut gehend schließt die israelische Präsentation: Im letzten Raum zieht eine endlose Menschenkette auf der Videoinstallation "Time Left", begleitet von düsterer Musik über die Wände. Assoziationen zu Krieg, Gewalt, Unterdrückung, vor allem zum Holocaust werden wach.

Weit expliziter hat sich die Australierin Patricia Piccinini in "We Are Familiy" mit einem verwandten Themenkreis befasst. Mittels fleischfarbenen Skulpturen - Mischwesen aus Menschen, Zellklumpen und Tieren, die wie aus einem utopischen Horrorfilm erscheinen - spricht Piccinini bioethische Fragen an. Durch das Mitschwingen von Ironie schrammt die Künstlerin mit ihren Mutanten gerade an der Grenze der Peinlichkeit vorbei.

Gegen Alltagsrassismus

Dokumentarisch und "politisch korrekt" präsentiert sich der amerikanische Pavillon. Der Afro-Amerikaner Fred Wilson beleuchtet die Rolle des "Mohren in Venedig" in Geschichte und Gegenwart. Anhand historischer Ölgemälde, einem schwarzen Murano-Luster und allgegenwärtiger Süßigkeiten wie "Negerküsse" macht Wilson in einer gelungenen Komposition auf den noch heute präsenten Alltagsrassismus aufmerksam. Es gelingt ihm, den Besucher so zu sensibilisieren, dass man beim anschließenden Spaziergang durch Venedig auf unzählige "Mohren" - etwa in Form von Stehlampen in Kitschgeschäften rund um den Markusplatz - trifft.

Zeit und Raum

Ganz anders besticht der Pavillon von Luxemburg, der außerhalb der Giardini mitten im Zentrum Venedigs in einem versteckten Hinterhaus liegt. Die lyrische mehrteilige Video- und Rauminstallation "air conditioned" der erst 1973 geborenen Künstlerin Su-Mei Tse hat die Jury bewogen, Luxemburg mit dem Prädikat des "besten Pavillons" auszuzeichnen. Su-Mei Tse kreist um klassische philosophische Themen: das Verhältnis von Zeit und Raum und die Darstellbarkeit solcher Kategorien. Mit Wörtern, Musik, Licht, bewegten Bildern und Architektur greift sie die Jahrtausende alte Suche des Künstlers nach einer universalen Sprache auf. Dieser Pavillon ist für Nichteingeweihte schwerer zu entschlüsseln als etwa der israelische. Wer sich aber auf die sensible und musische Darstellungsart dieser Künstlerin einlässt, wird ihr viel abgewinnen können.

Und Österreich? Der diesjährige Kommissär Kasper König hat auf Bruno Gironcoli, gesetzt. Zwar ist der 66-jährige Bildhauer keine Neuentdeckung - der große internationale Ruhm wurde ihm dennoch verwehrt. Insofern war er eine gelungene Wahl. Im Unterschied zu den beiden letzten Biennalen, wo mehrere junge Künstler-Gruppen präsentiert wurden, die wenig brillierten, steht hier eine einzige gewaltige, wenn auch bereits klassische künstlerische Position zur Diskussion. Gigantische Maschinenskulpturen mit glänzender silberner, goldener oder bronzener Oberfläche bevölkern den österreichischen Pavillon. Handelt es sich bei den bedrohlichen Maschinen um Überlebende der Urzeit oder um Roboter einer kommenden, menschenleeren Welt?

Bruno Gironcolis Skulpturen

Bruno Gironcolis raumsprengende Objektassemblagen zeichnen sich durch barocke, geradezu manierierte Üppigkeit und dekorative Ornamentik wie durch eine glatte Fabriksästhetik des Maschinenzeitalters aus. Realistische Details der Alltagswelt verbindet der Bildhauer mit geometrischen Grundformen wie Kreis, Viereck und Quadrat und schafft so eine spannungsvolle, geradezu unheimliche Kombination aus Gegenständlichkeit und Abstraktion, aus Symbolhaftem und Formalem. Der Hoffmann-Pavillon, den der Künstler als "wunderbaren Kiosk" bezeichnete, sei viel zu klein für Gironcolis wuchtige Skulpturen, ätzten manche Kritiker. Genau diese Enge und das Gefühl, die Figuren seien eingezwängt in ein architektonisches Korsett, wirkt aber besonders reizvoll - vor allem in Bezug zum Biennale-Motto "Träume und Konflikte". Einziges Manko: die wunderbaren Gironcoli-Zeichnungen fehlen. Man habe sie bewusst weggelassen, argumentieren Kurator und Co-Kuratorin. Dies ist aber für den Betrachter nicht nachvollziehbar, denn gerade durch die mediale Vielfalt hätte sich Gironcoli noch besser in die Riege der "jungen" Künstler eingereiht.

Immer etwas Neues sehen

Beim Verlassen des Biennale-Geländes ist man erleichtert, nach so viel konfliktreicher Gegenwart wieder in die Welt Tintorettos und Tizians einzutauchen. Dennoch erfasst einen Wehmut, dass die Biennale nur zweijährig stattfindet. Venedig leite sich aus dem lateinischen "Veni etiam" ab, überlieferte Sansovino aus dem 16. Jahrhundert, was soviel wie "Komm immer wieder" bedeute. "Denn sooft du auch kommst, du wirst immer Neues erblicken". Dies lässt sich auch auf die Biennale beziehen, die trotz aller Schwächen zumindest punktuell immer wieder neue künstlerische Sichtweisen auf die Gegenwart zu Tage fördert.

Bis 2. November 2003

Information: www.labiennale.org

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