Architektur zum NOTWENDIGEN

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"Reporting from the Front": Kurator Alejandro Aravena schickt die 15. Architekturbiennale auf Sinnsuche. Höchste Zeit und sehr spannend.

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"Reporting from the Front": Kurator Alejandro Aravena schickt die 15. Architekturbiennale auf Sinnsuche. Höchste Zeit und sehr spannend.

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Die Erwartungen waren hoch: Schließlich stand mit Alejandro Aravena als Kurator ein junger Architekt aus Chile mit viel Charisma und dezidiert sozialer Praxis an der Spitze der 15. Architekturbiennale in Venedig. Sein Büro ELEMENTAL realisiert vor allem intelligente, kostengünstige Projekte mit gesellschaftlichem Mehrwert - Schulen, Spielplätze, Büros, soziale Wohnbauten.

An den Rand und mitten hinein

Die Biennale stellte Aravena unter das Motto "Reporting from the Front". Diese Aufforderung führte zu Projekten über Armut, Naturkatastrophen, Müllbergen, informellen Siedlungen, sozialen Wohnbauten, Kriegsschauplätzen, Migranten, an Peripherien, Randzonen, Verkehr, aber auch mitten ins pulsierende Herz von temporären Massenansammlungen wie Kumbh Mela in Indien. Dieses religiöse Großereignis, das alle zwölf Jahre in wenigen Wochen eine funktionierende Infrastruktur für sieben Millionen Menschen entstehen lässt, wurde von Rahul Mehrotra und seinem Team dokumentiert und ist als Denkanstoß zum massiven Wachstum von Städten zu sehen.

"Architektur heißt, Orten Form zu geben, in denen Menschen wohnen. Es ist nicht komplizierter und nicht einfacher als das", so Aravena. "Die Formen dieser Orte können das Leben von Menschen verbessern oder ruinieren." Diese Biennale soll Architekten, Entscheidungsträger und Normalbürger gleichermaßen anregen, Dinge anders zu sehen. Im Prinzip geht es nicht um arm oder reich, sondern um Qualität und die Mittel und Möglichkeiten, sie zu erreichen und einzufordern.

Für die Gestaltung der Ausstellungen im Arsenale und im zentralen Pavillon der Giardini wurden die Materialien der letzten Kunstbiennale recycelt: Den ersten Raum nutzt der Kurator, um den Entstehungsprozess zu dokumentieren. Gebrochene Stellwände und teils gebogene Metallschienen, die meterhoch von der Decke hängen und mit ihren Freiräumen und reflektierenden Oberflächen sehr schöne Lichtstimmungen erzeugen, schaffen einen spannenden Raum: ein programmatischer Auftakt. "What's your battle? - Was ist dein Kampf?", lautete die Frage an die teilnehmenden Büros. Man kann sie pathetisch finden, aber das passt zur Dringlichkeit des Anliegens: Architektur, um den Zustand der Welt zu verbessern. Die Antworten ergeben ein buntes Kaleidoskop an möglichen Reichweiten und Erscheinungsformen von Architektur. Extrem schwierige, von Mangel und Trauma geprägte Rahmenbedingungen eröffnen auch neue Handlungsspielräume.

Das Plakatsujet zeigt eine Frau auf einer Leiter aus Aluminium in der Wüste: die deutsche Archäologin Maria Reiche auf der Suche nach den Nazca Linien in Peru. Die figürlichen Darstellungen von Menschen, Affen, Jaguaren, Bäumen oder Vögeln sind nur aus der Distanz zu erkennen: mit ihrer Aluminiumleiter fand Reiche einen Weg, sie zu sehen, ohne die Wüste zu zerstören. Diese Haltung ist leitmotivisch für diese Biennale.

Den Anfang machen Al Borde Arquitectos aus Ecuador: Münzen in Geldbeuteln symbolisieren plakativ und einprägsam die Baukosten für absolut Dringliches. Ihre New Hope School kostete 4,99 Euro pro Quadratmeter. Sie ist aus Bambus und Stroh. Der "Knowledge Wagon", eine Art fahrbare Bibliothek kam auf 274,19 Euro pro Quadratmeter. Die Präsentation der Arbeiten von Wang Shu und Lu Wenyu vom Amateur Architecture Studio aus China interpretieren alte Bautraditionen neu. Handgepinselte Pläne, Details wie ein Türblatt oder Beton mit Schalungsbrettern aus Bambus sind faszinierend. Als Präsentationsform für Architektur immer ein Erlebnis: Das eins-zu-eins Modell. Wie die Kinderbibliothek von Zhang Ke, der um die Erhaltung der traditionellen Hutong-Hofhäuser kämpft. Diese kleine, vielschichtige Bibliothek aus Beton, der mit schwarzer Tinte gefärbt wurde, ist als kommunaler Treffpunkt in einen Hof implantiert und zeigt, wieviel Vielfalt auf engem Raum möglich ist. Außerdem im Originalmaßstab zu erleben: mongolische Rundhütten. Der Eingliederung und Aufwertung dieser nomadischen Wohnform in die Infrastruktur der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar widmet sich die Arbeit des RUF (Rural Urban Framework).

Das britische Assemble Studio zielt auf die größtmögliche Selbstermächtigung von Menschen und Kindern ab, das partizipative, studentische Selbstbauer-Kollektiv Rural Studio wird seine Installation aus recycelten Lattenrosten, Stühlen und Bänken nach der Biennale dem Sozialzentrum "Rivolta" für Obdachlose in Marghera am Rand von Venedig als Möbel zur Verfügung stellen. Auch die innovativen Leichtkonstruktionen von Werner Sobek, die Lichtarchitekturen von Transsolar und Architekten mit perfektionistischem Höchstanspruch sind vertreten. Das österreichische Bruderpaar Marte. Marte zeigt seine ästhetischen Brücken und Häuser aus Sichtbeton. Die Schweizer Christ & Gantenbein präsentieren ihre Erweiterung des Kunstmuseum Basel, Peter Zumthor ein Modell seines Los Angeles County Museum of Art (LACMA) - umrahmt von natürlich gefärbten Gewändern aus Seide von Christina Kim -schön und dekadent. Im Hauptpavillion der Giardini wird die Forensic Architecture von Eyal Weizmann präsentiert, der u. a. die Materialität von Bombenstaub analysiert, so Kriegsgeschehnisse rückverfolgen und Verbrechen an der Menschheit nachweisen kann. Die Lehmarchitektur von Anna Heringer und Martin Rauch und viele andere Projekte setzen hier einen Kontrapunkt.

Architektur für Flüchtlinge

"Reporting from the Front" zeigt auch in den nationalen Beiträgen Wirkung. Finnland, Österreich und Deutschland widmen sich der Flüchtlingsfrage. "Making Heimat. Germany, arrival Country" wurde von Oliver Elser kuratiert. Es zeigt Deutschland ganz augenfällig mit vier großen, neu in den Pavillon eingebrochenen Öffnungen als offenes Land. Die präsentierten Unterkünfte für mehr als eine Million Flüchtlinge sind effizient, aber nicht innovativ.

Für Österreichs Beitrag "Places for People" wählte Kuratorin Elke Delugan-Meissl die Büros Caramel architects, EOOS und the next ENTERprise architects, um an drei Standorten in Wien zu intervenieren, die als Flüchtlingsunterkünfte mit verschiedener Aufenthaltsdauer genutzt werden oder werden sollen. EOOS entwickelten soziale Möbel aus Doka-Platten, die von den Flüchtlingen selbst zu bauen sind und unter anderem zum Kochen dienen, eine gemeinschaftsbildende Maßnahme. Caramel bearbeiteten ein Büro aus den 1970ern, das von 280 Männern, Frauen und Kindern bewohnt wird. Stecksysteme aus Plastikrohren, Kabelbindern und Vorhängen, die von den Frauen genäht wurden, schaffen Privatheit und veränderten das Klima im Haus eklatant zum besseren. The next ENTERprise entwarfen ein prototypisches Raum-im-Raum System für einen Büroleerstand aus den 1980ern, der künftig von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Studierenden bewohnt werden soll. Großformatige Abrissblöcke mit Fotos von Flüchtlingen, Büros, Details und Architekten im ersten Raum vermitteln diese Projekte plakativ ungenügend, die Werkbank mit Baumaterialien, Filmen, Büchern und eine Zeitung zur freien Entnahme schafft das besser. Der Fokus liegt ohnehin vor Ort in Wien.

Die Schweiz setzte auf Innovation und zeigte einen 3D-gefrästen, freigeformten Incidential Space von Christian Kerez, der außen wolkig, ihnen höhlenartig den ganzen Raum verwandelt. Der goldene Löwe für den besten Pavillon ging nach Spanien: "Unfinished" ist eine von Iñaqui Carnicero und Carlos Quintans kuratierte, überzeugend gut gestaltete Ausstellung über den Umgang mit unfertigen Restbeständen der überhitzten Bau-Boom-Ära. Unbedingt ansehen.

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