Rotes Wiener Wohnwunder

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1919-1934 errichtete die sozialistische Wiener Stadtregierung in einer Wohnbauoffensive 64.000 Wohneinheiten. Eve Blau recherchierte akribisch diese Zeit für "Rotes Wien: Architektur 1919-1934".

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1919-1934 errichtete die sozialistische Wiener Stadtregierung in einer Wohnbauoffensive 64.000 Wohneinheiten. Eve Blau recherchierte akribisch diese Zeit für "Rotes Wien: Architektur 1919-1934".

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Das Ende des Ersten Weltkriegs traf Wien bitter: Die einstige Reichs-und Residenzhauptstadt war von ihren früheren Kronländern, die sie mit Lebensmitteln, Öl, Kohle und anderen Rohstoffen versorgt hatten, abgeschnitten. Traumatisierte Soldaten kehrten in eine Stadt voll hungernder Zivilisten zurück. 1,8 Millionen wohnten in der Metropole, die nicht einmal genug Ressourcen hatte, um ihre Industrieanlagen zu betreiben. Die Menschen litten Hunger, die Inflation galoppierte, es herrschte eklatanter Mangel an fast allem: Nahrung, Arbeit, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, städtischer Infrastruktur. Das Proletariat hauste damals unter elendsten Bedingungen in den berühmt-berüchtigten Zinskasernen der Außenbezirke. In kleinen Zimmer-Küche-Kabinett-Einheiten mit Klo und Bassena am Gang lebten ganze Familien und mitunter auch Bettgeher ohne Privatheit. Die Säuglingssterblichkeit war hoch und Tuberkulose weit verbreitet.

Architektur als soziale Utopie

Jahrelang erforschte Eve Blau diese Ära. 1999 erschien "Architecture of Red Vienna, 1919-34", ein akribisch recherchiertes Werk, das das Wohnbauprogramm als Teil einer umfassenden Reformbewegung sah, die eine bessere Gesellschaft erschaffen wollte. Nun wurde es übersetzt und mit aktuellen Fotos der Bauten von Pez Hejduk ergänzt. "Rotes Wien: Architektur 1919-1934" beschreibt die Stadt als komplexen Lebensraum mit vielen Komponenten. Wien war eine Metropole an der Kippe. Die sozialistische Stadtregierung fokussierte ein einziges Ziel, und das nachhaltig: bessere Lebensverhältnisse für die Unterschicht zu schaffen. Viele Maßnahmen, die gesetzt wurden, würde man sich heute wieder wünschen. Das Buch geht über die Analyse einer längst vergangen Epoche weit hinaus. Es zeigt Plakate, Fotos, Grundrisse, Pläne, zitiert Zeitgenossen und ist ein Muss für alle, die sich für Städte, soziale Gefüge und das Zusammenspiel von Architektur und ihren Bedingungen interessieren.

Am 12. November 1918 wurde die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen. 1919 erhielten Frauen das Wahlrecht: das trug dazu bei, dass am 4. Mai 1919 die sozialdemokratische Partei in Wien die absolute Mehrheit bekam. Damit begann die legendäre Ära des "Roten Wien", die bis 1934 andauerte. In dieser Zeit entstanden an die 400 soziale Wohnbauten unterschiedlicher Größe. Sie boten 200.000 Wienern eine neue, günstige Bleibe. Die Mieten sollten nicht mehr als 3,5 Prozent des Durchschnittslohns eines angelernten Arbeiters betragen und vor allem die Wartungs-und Reparaturkosten decken. Die Stadtregierung wollte sich nicht bereichern, sie wollte "eine neue sozialisierte Menschheit" kreieren. Die Wohn-, Bildungs-, Kultur-, Sport-u nd Begegnungsstätten wurden in der Stadt verteilt. So sollte sich das bis dato benachteiligte, marginalisierte Proletariat zur solidarischen Gemeinschaft entwickeln.

190 Architekten planten für die Stadt: Davon waren nur etwa 20 Magistratsbeamte. Auch Avantgardisten wie Adolf Loos, Margarethe Schütte-Lihotzky, Josef Frank und Peter Behrens planten. Sie propagierten die Siedlerbewegung, die sich besser mit den Vorstellungen der Moderne in Verbindung bringen ließ. Ihre Gärten wurden bewusst zur Kultivierung von Obst und Gemüse genutzt, um die Hungersnot einzudämmen. Tiere wurden gehalten und es gab eigene Kurse zum Bauen, Garteln, Handwerken.

Avantgarde und Wiener Schule

Viele Schüler von Otto Wagner entwarfen wegweisende Gemeindebauten. Darunter Karl Ehn, der mit dem Karl-Marx-Hof ein Flaggschiff des roten Wien und einen prototypischen Superblock entwarf: Allein seine Fassade ist über einen Kilometer lang, ursprünglich hatte der Bau 1382 Wohnungen für rund 5500 Bewohner. Ehn versuchte mit den großen, öffentlichen Plätzen in der Mitte einen Hybrid aus Blockrand, Hofhaus und Gartenstadt zu realisieren. Denn international stießen die Wiener Superblöcke mit der dichten Bebauung, kleinen Grundrissen und oft konventioneller Architektursprache im Vergleich zu avantgardistischen Siedlungen in grünen Vorstädten auf starke Kritik.

Auch Hubert Gessner, der den Karl-Seitz-Hof und den Reumann-Hof plante, sowie Hermann Aichinger und Rudolf Perco waren Wagner-Schüler. Sie verbanden die Wiener Bautradition mit dem sozialistischen Wunsch nach einer Wohnform, in der sich Gemeinschaftsgeist entwickeln konnte. Ökonomische Überlegungen wurden bewusst zugunsten von Gemeinschaftsbildung und Arbeitsplatzbeschaffung hintangestellt: Die meisten Superblocks sind konventionell aus Ziegeln gemauert, verputzt und weisen viele Zierelemente und Kunst am Bau auf, die Handwerkern und Künstlern Beschäftigung bot. Denn die Bauten sollten auch wesentlich zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beitragen. Die Superblocks gruppieren sich um große, gemeinsame Grünflächen, die mit Waschküchen, Bädern, Kindergärten, Bibliotheken und anderen kommunalen Einrichtungen ausgestattet sind. Dieser Bautyp war gleichermaßen der soziale Nukleus für die Heranbildung einer besseren Gesellschaft. Im Februar 1934 wurde der Karl-Marx-Hof zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen Schutzbund und Heimwehr und mit Artilleriefeuer beschossen. Vorboten einer neuen Zeitenwende.

Rotes Wien: Architektur 1919-1934

Von Eve Blau, Ambra 2014.534 S., geb., € 105,00

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