Werbung
Werbung
Werbung

Volkswohnpaläste eines selbstbewussten Proletariats verändern die ehemalige Reichshauptstadt.

Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik des "Roten Wien" veränderten die ehemalige Reichshauptstadt. Noch heute bezeugen die Gemeindebauten der Wohnhöfe diese Ära. "Wenn wir einst nicht mehr sind, werden die Steine für uns sprechen!" - mit diesen Worten eröffnete Bürgermeister Karl Seitz 1933 den letzten Bauteil des Karl Marx-Hofes in Heiligenstadt.

Machtverhältnisse manifestieren sich immer auch in Gebautem: auf die erste Gründerzeit des Historismus mit Ringstraße, Burgtheater, Hofoper und neuer Kaiserresidenz folgte die zweite Gründerzeit des "Roten Wien" mit den nach Seitz, Marx und Engels benannten Höfen, dem Bau des Wiener Stadions zur Arbeiterolympiade, Kinderfreibädern, Schulen und anderen sozialen Einrichtungen. Den Grundstein dazu legte die erste Wiener Gemeinderatswahl am 5. Mai 1919, bei der die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine klare Mehrheit errang.

Das Wohnungselend der Arbeiter, die in Mietzinskasernen auf engstem Raum zusammengepfercht dahinvegetierten, war ein enormes soziales Problem. "Man kann Wohnung für Wohnung abschreiten, es fehlt alles, was wir als Grundlage gesunden, bürgerlichen Lebens zu sehen gewohnt sind. Diese Wohnungen bieten keine Behaglichkeit und keine Erquickung, sie haben keinen Reiz für den von der Arbeit Abgemühten. Wer in sie hinabgesunken oder hineingeboren wurde, muss körperlich und geistig verkümmern und verwelken oder verwildern", schrieb der bürgerliche Nationalökonom Eugen Philippovich über die Zwei-Millionen-Metropole Wien zur Jahrhundertwende.

Nach dem Ersten Weltkrieg sank zwar die Einwohnerzahl, die Wohnsituation verschärfte sich aber aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage. 58 Prozent der Arbeiterschaft hatte kein eigenes Bett, 85 Prozent aller Kleinwohnungen nur eine Wohnküche, Gas und elektrisches Licht waren selten, Badezimmer fehlten völlig, das Gangklo teilte sich meist ein ganzes Stockwerk. Die "rote" Gemeindeverwaltung machte die Wohnungsfrage zum Kernthema der Sozialpolitik. Notwohnungen wurden in aufgelassenen Baracken und Kasernen eingerichtet; die rege Bautätigkeit begann 1923 mit der Einführung der progressiv gestaffelten Wohnbausteuer, eingehoben von denen, die im Stadtgebiet vermietbare Räume besaßen. Eigentümer von Villen und Stadtpalästen mussten 1800mal so viel zahlen wie Arbeiter in einer Kleinwohnung. Finanzstadtrat Hugo Breitner wurde als "Steuervampir", "Steuersadist", "Steuerbolschewist" beschimpft. Das Bauprogramm für 5000 Wohnungen pro Jahr wurde trotz Weltwirtschaftskrise erfüllt und bis 1929 auf 25.000 Wohnungen gesteigert. 1923-34 wurden mit Mitteln der Wohnbausteuer 63.934 Wohnungen errichtet. Für fast eine Viertelmillion Menschen hatte die Gemeinde Wien Wohnraum geschaffen.

"Neue Menschen" im Geist einer "neuen Epoche" sollten in den "Volkswohnpalästen" aufwachsen, deren Architektur deutliche Anleihen an adeligen Schlössern nahm. Die Idee der englischen Gartenstadt oder gestaffelte Terrassenbauten setzten sich nicht wirklich durch, auch die zeitgenössische avantgardistische Architektur im Sinn der "Neuen Sachlichkeit" entsprach nicht der Vorstellung kommunalen Wiener Wohnens. Favorisiert wurden sogenannte "Superblocks" als "Stadt in der Stadt". In diesen geschlossenen Anlagen mit Waschküchen, Kindergärten, Bibliotheken, Geschäften und ähnlichem sollte ein neues, solidarisches Gemeinschaftsgefühl entstehen. Verstärkt wurde das Selbstbewusstsein der Bewohner von der palastartigen Architektur. Die monumentalen Wohnhöfe hatten meist eine repräsentative Schauseite zur Straße, Schmuckelemente wie Türme, Fahnenstangen, Tore, Balkone, Erker und als Pendant zum Schlosspark einen großen Grünraum in der Mitte.

Ein Höhepunkt der ersten Phase sozialistischen Wohnbaus ist der Karl Seitz-Hof in Jedlesee, ein autonomer "Superblock" in unverfälschter, imperialer Hochform. In sanftem Schwung umkreist die neungeschoßige, gegliederte Außenfassade mit Uhrturm einen halbrunden "Ehrenplatz". Elemente wie Rundbogen, Bullaugenfenster, Gesimsbänder, Triumphbogenmotiv mit Rednerbalkon in der Hauptfront geben dem Bau ein barockes Gepräge. 1.173 Wohnungen und kommunale Einrichtungen beherbergt dieser "Korso des Proletariats".

Josef Frank äußerte sich zur Architektur des Karl-Seitz-Hofes kritisch: "Das ist die typische Palastwohnung mit stramm ausgerichteten Türen, die eine ,weite Perspektive' durch die Gemächer eröffnet. Hier steht zwar am Ende dieser ,Zimmerflucht' kein Thron, wohl aber symmetrische Prachtbetten in einem Abstand von 35cm von der Tür und darüber ein nach Öldruck schreiender leerer Fleck. Es fehlen nur die Spiegel an den Wänden, sonst wäre es wie Versailles." Die Wohnungen hinter den Prachtfassaden des "Roten Wien" wurden schon von Zeitgenossen als zu klein bemängelt. 21m2 berechnete man für Einraumwohnungen, größere Einheiten maßen 40m2, 49m2 und 57m2. "Die Gemeindehäuser sind gebaut worden, um den Parteigeist zu züchten. Man pfercht die Menschen zusammen, damit sie für die Partei wählen", formulierte Adolf Loos messerscharf.

"Bollwerke" und "Rote Burgen" nannte die gegnerische Presse die "Superblocks". Dem riesigen, von Rudolf Perco geplanten "Engelsplatzhof" mit 1467 Wohnungen, Fahnenstangen und martialischer Torsituation gestand sie "Brückenkopffunktion" zu. Doch das "Rote Wien" baute auch anders: am Stadtrand entstanden Siedlungshäuser wie die "Hermes-" oder "Lockerwiese". Auch Loos, Frank und andere wesentliche Vertreter der Moderne hinterließen ihre Spuren im Gemeindebau.

Flaggschiff und Ikone ist bis heute der Karl Marx-Hof. Die monumentalen Triumphbögen in der Sockelzone der Ein-Kilometer-Fassade wurden in der Achse vom Heiligenstädter Bahnhof zum Hohe-Warte-Stadion angelegt, wo sich Sonntags bis zu 40.000 Fußballfans durchzwängten. Fahnenstangen, turmartige Vorbauten mit dekorativ auskragenden Balkonbrüstungen, Loggien, Vor- und Rücksprünge gliedern seine enorme Dimension. 1382 Wohnungen mit Toilette und Küche standen beim Erstbezug zur Verfügung, damals ein Luxus. 25 Geschäfte gab es im Karl-Marx-Hof, weiters Apotheke, Bücherei, Kindergarten, Waschsalon; er wird heute noch benutzt.

Das "Rote Wien" ist in die Jahre gekommen. Den Slogan, mit dem ein Fremdenverkehrsprospekt 1980 den Karl-Marx-Hof bewarb, hat es nicht verdient: "Ein Kilometer Art déco". Es sind nicht Werbetexter, sondern die Steine, die noch immer für das "Rote Wien" sprechen.

DAS ROTE WIEN

Von Helmut Weihsmann, Pro Media Verlag, 496 Seiten, über 500 Fotos und Pläne, e 39,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung