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Rote Nelken in Döbling

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DIE HERREN VON TOPOLIC werden schon im zwölften Jahrhundert als die ältesten Grundbesitzer eines im Orte Döbling ansässigen Geschlechtes genannt. Die Herren besaßen wie in Döbling auch im benachbarten Sievering Ackergründe und Weingärten. Der Hof der Herren von Topolic fand auf der Höhe über dem Krottenbach, dort, wo heute die Villa Wertheimstein liegt. Die Topolicer Herren, die sich nach dem „Tobel“, dem brausenden Bache nannten, waren österreichische Dienstmannen. Ihr Wappen: ein schwarz-weiß geschachteter Querbalken in einem vermutlich gelbem Schilde, der ein Dreieck bildet. Nach diesen Herren von Tobel-Topolic hat der Name des 19. Wiener Gemeindebezirkes seinen Paß. Am Ende des 14. Jahrhunderts werden keine Herren von Tobel mehr genannt. Sie waren wohl ausgestorben.

DÖBLING STARB NOCH EIN ZWEITES MAL, wenn wir von den üblichen Kriegsverheerungen, besonders 1683 und 1809, absehen. Das war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Worte Ferdinand von Saars nur noch rückschauende Erinnerung boten: „Heute gehörst du zur Stadt und hast dich darnach auch verändert; kaum zu erkennen mehr bist du dem nahenden Blick.“ Das war die Zeit der Eingemeindung der Vororte nach dem Landtagsgesetz vom 19. Dezember 1890: Ober- und Unter-Döbling. Sievering, Grinzing, Heiligenstadt, Nußdorf, Kahlenbergerdorf und Josefsdorf gingen in dem 19. Bezirk auf. „Aber wo ist die Reihe der Linden, die einst vom Linienwalle kühlend und duftend zugleich, mich dir entgegengeführt“, schrieb der „Döblinger Poet“ Saar und setzte fort: „Es ragen nüchtern, einförmig und hoch neue Gebäude hervor. Baugrund wurde der Acker ...“

LEB-- DER DÖBLINGER POET HEUTE, nach genau 50 Jahren, da er die Augen schloß, noch: er würde zum zweiten Male die Augen schließen. Er tröstete sein Herz zu seiner Zeit noch, daß er Gassen zu finden wisse, wo das, was dieses Herz erfreute, bewahrt sei. Ferdinand von Saar hätte heute einen Fremdenführer nötig.

EINEN SOLCHEN FREMDENFÜHRER trafen wir am alten Heiligenstädter Pfarrplatz. Er lehnte an der offenen Türe des großen Autobusses und hörte sich vom Wagenradio gerade an, wie eine schmalzige Stimme versicherte, daß sie so gern das Herzklopfen hören wolle. Ob er das neue Döbling auch zeige, wollten wir wissen. „Nein“, sagte er und schüttelte höchst erstaunt über die Frage den Kopf. „Beethoven-Haus, dann Höhenstraße und Jause auf dem Kahlenberg, zum Schluß Heuriger.“ Das war die kulturelle Speisenkarte, garniert mit leiblichen Genüssen. Nun: was ist das neue Döbling?

DAS NEUE DÖBLING sind einmal die Bauten der Jahrhundertwende. „Schon weist sich die Not im härtesten Kampfe um ein Dasein ... sieh nur die Häuser . .. mit rissigen, bröckelnden Simsen.“ Die dreistöckige Bebauung war anfangs nur in der Döblinger Hauptstraße, Billrothstraße and Gymnasiumstraße erlaubt, später wurde sie auch für andere Straßen, wie die Heiligenstädter Straße, gestattet. Dort, in der Heiligenstädter Straße, wuchs dann mit den Hausnummern 82 bis 92 der Karl-Marx-Hof auf, dessen Grundsteinlegung am 2. Juli 1927 und dessen Eröffnung am 1. September 1930 stattfand. Dieser Komplex auf einem Gesamtareal von 8.14 Hektar, von dem 34 Prozent verbaut wurden; der 1318 Wohneinheiten mit einer durchschnittlichen Wohnungsgröße von 37 Quadratmetern und weit über 4000 Bewohner zählt, mehr als Melk: diese riesige Anlage, dessen Länge über einen Kilometer lang ist, war sicherlich der Ausdruck einer Epoche. Die Anforderungen des sozialen Wohnungsbaues der dreißiger Jahre: jeder Wohnung einen eigenen Balkon, große weiträumige Innenhöfe mit Spielplätzen, die nach außenhin gegen den Verkehr abgeschlossen sind, das fand im Karl-Marx-Hof seine Verwirklichung. Wenn man heute jedoch die Heiligenstädter Straße weiter nach Nußdorf zuwandert, stehen linker Hand, von der Nummer 139 an, neue Bauten, die einen offenkundlichen Gegensatz zum Karl-Marx-Hof abgeben. Durch ihre Höhe, die von Westen her gesehen bedeutender wirkt als die kilometerlange Front ostwärts, sind sie weitaus weniger organisch in das Gelande hineinkomponiert als der Karl-Marx-Hof, der in einer Senke liegt, wo früher Schrebergärten sich ausbreiteten. Der Gegensatz des Systems wird noch offenkundiger für den, der dann in die Grinzinger Straße einschwenkt, wo man mit den Bauten von 1951/52 plötzlich sich wieder an den Vorortecharakter erinnerte. Aber die Häuser in der Heiligenstädter Straße ab

Nummer 139 — tote Massen, die feindlich nach dem Grün der Berge und Weingärten hin-blicken — sind noch Gold im „sozialen Wohnungsbau“, der zwischen 1945 und dem 31. Mai 1956 ift Döbling 3349 Wohnungen erstellte (das Wort „erstellte“ paßt genau). Sowohl die größten neuen Anlagen in der Flotowgasse 3—17, Bauteil I und II mit 466 Wohneinheiten, der Komplex Boschstraße-Halteraugasse (277 Wohnungen), Grinzinger Allee-Huschkagasse (215) und Krottenbachstraße 90-110, Bauteil I und II (198 Wohnungen), haben nur wenig Gefühl für die Ausnützung der Bodenschichtlinien, aber ein desto betonteres Sich-zur-Schau-Stellcn. In Döbling, und gerade hier in den traditionsreichen Vororten, sind seit Kriegsende mehr Wohnungen gebaut worden als in anderen Bezirken. Hier ist der Stoßtrupp am Werke, der die Minen legt an Wiesen, Gärten und Felder; hier hungert man nach dem „Westblick“,' mit dem Erfolg, daß der Ausblick auf die Berge immer mehr einschrumpft.

DER HUNGER NACH DEM WESTBUCK treibt groteske Blüten. Und weil das Wort „Hunger“ fällt, so muß wohl der Lage am Hungerberg gedacht werden. 1256 taucht der Name dieser Höhe bereits auf. Hier war eine Stellung der Türken 1683 und ist heute eine Stellung neuer Türken. Im Jahre 1847 befand sich schon auf diesem Berge eine Aussichtswarte, und W. A. Hammer schreibt noch 1922 von einem „mit Bäumen und Bänken versehenen Aussichtspunkt, wo wir einen entzückenden Blick genießen“. Der entzückende Blick von heute: vom Norden und Nordosten, aber auch von Osten besteht im Vordergrund aus Weingärten — die vorderhand noch bleiben dürfen —, im Hintergrund aus einzelnen Wohnblöcken, die aus den Mitteln des Bundeswohn-und Siedlungsfonds und des Landesfonds der Gemeinde Wien eben im Erstehen sind. Sie sehen ganz einfach wie Bunker aus. Die Apfelbäume tragen noch Früchte — wer weiß, wie lange? Die Maisstauden wehen im Sommerwind — wer weiß, wie lange noch? Gelbe und weiße Schmetterlinge umgaukeln die hohen Weinranken — wer weiß, wie lange noch? Von ferne ertönt das Rattern einer Betonmischmaschine, ein Lastwagen mit Ziegeln wirbelt Staub bis zur Stockhöhe auf, und eine Frau zieht schnell ihr kleines Mädchen in einen verfallenen Garten, über dem die Karmeliterkirche im Dunste des späten Nachmittags ihre zwei Fassadentürme gegen den Himmel reckt. Die beiden Menschen wundern sich sehr über den einsamen, scheinbar so müßigen Fußgeher und erstaunen noch mehr, als sie gefragt werden, ob sie sich in dem Gärtchen auch einmal ein Haus bauen wollen. „Nein“, sagt die Frau, „für uns ist der Garten das, was für anderen die Sommerfrische ist.“ Und das kleine Mädchen pflückt aufs Geratewohl ein paar der unscheinbaren Blumen und schenkt sie dem Fragenden: Löwenzahn und rote Nelken ;..

IN DIESEM BLUMENSTRAUSSE, der jetzt auf dem Tische in einer Vase steht, die nicht zu dem Gehörten und Gesehenen passen will, war auch ein Unkraut. Ein Zufall. Was geben die Kinderaugen auch für Wohlkräuter und Unkräuter, wenn nur die Farben leuchten! Aber die Farben, die Unkräuter, die an der Wallmodengasse, gleich nächst der Hohen Warte, in der Form von Sandbergen, Kiesgeriesel und gelbem Sand um Planken herumwuchern, die den „Zutritt“ verbieten, passen in eine Kristallvase Döbling wie die Brennessel auf eine Gemüseplatte. Im Hintergrund sieht man noch die Hänge des Kahlen- und Leopoldsberses, überragt von dem Mäste des Fernsehsenders. Aber bald wird man nur noch den Mast erblicken — wie den Mast eines Schiffes, das untergeht.

DÖBLING GEHT UNTER. „Noch ragt zum Himmel der Turm auf“, ja, Herr von Saar, aber beziehen Sie im Geiste eine höhere Warte, sonst-verwechseln Sie den Stephansturm mit dem Ringturm. Das sind so die zwei Pole. Hier heraußen gegen die Ueberlieferung des Bürgertums; dort unten gegen die Tradition eines versunkenen Staates, der seiner Residenz den Glanz der Paläste verschaffte, an denen der Herr Fremdenführer — nach dem Heurigen — die Ausländer vorbeilotst. Hier in Döbling suchten Waldmüller und Schwind Motive, Michael Neder malte seine ..Döblinger Bür?erwehr 1848“, Johann Michael Kupfer die „Weinlese am Nußberg“, in der Lannerstraße hatte Hlavacek sein Atelier. Und was wäre Döbling ohne Musik! Mozart, Beethoven, Schubert, Hugo Wolf, Schreker, Mahlef

— um nur einige zu nennen — und wie denn anders, auch Lanner und Strauß holten auf Döb-lineer Boden ihre ersten Lorbeeren. Und die Dichtung! Vor 700 Jahren zog der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein durch Döblins Fluren, Seifrid Helbling war gebürtiger Nußdorfer, Ottokar von Horneck erweist sich als guter Orfpkenner, der „Pfaff von Kahlenberg“ lebte in Kahlenbergerdorf, Grün, Seidl, Stifter, Lenau und Grillparzer (der „Weh dem, der lügt“ in Heiligenstadt Bauernfeld und Feuchtersleben vorlas) schauten in die Weiten, die damals noch Weiten waren.

„SCHELTET MTR NIMMER ALT-WIEN, ihr Neuern und lasset euch sagen: war es ein Capua auch, war es doch keines des Geistes“, schrieb Saar in der VI. Wiener Elegie. „Ja. hier bereitet sieji vor in allen Phasen die Zukunft... Wahrer des ewigen Friedens, Begründer der pleichesten Gleichheit... Maler der vierten Dimension

— und Entdecker der fünften, die mit Gespen stern bereits speisen vertraulich zur Nacht“ —, welche prophetischen Worte vor mehr als fünfzig Jahren!

NOCH STEHEN EIN PAAR STRASSEN, es „weht die Luft herüber vom Kahlenberg'' — noch, ja noch; in den Vorgärten glühen die Rosen, glänzt da und dort eine altmodische Glaskugel. Die Schatten werden länger. Sie wandern über die schmalen Giebelseiten der Hauerhäuser und der beschämt sich ins Grün bergenden Biedermeierhäuser, wie das der Therese Krones eines war. Die Faust des Krieges hat es zerstampft. Nun ballt sich die Faust des Friedens. Komm, mein Kind, wir wollen noch einmal durch die alten Gassen sehen...

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