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Musik in Döbling

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Jetzt hören wir sie wieder, die alte Melodie in den alten Döblinger Gassen, und kein Verkehrslärm kann sie überschreien. Wieder umtönt sie uns, gleichsam der Kontrapunkt unserer Schritte und je tiefer wir in das Gesicht der großväterlidien Häuser schauen, um so heller klingt sie uns entgegen. Mehr als anderswo sind ja wir in Döbling ein geistiger Haushalt, Kinder berühmter Eltern, die Dichtung und Musik heißen. Deshalb empfinden wir bei aller Ehrfurdit Beethoven als den großen Bruder und Schubert als den liebsten Verwandten deshalb haben wir ein persönliches Verhältnis zu ihrer Musik, die ihre Stimme ist, mit der sie ernst und mahnend, aber auch heiter und tröstend zu uns reden, zunächst zu uns, wie sehr auch ihr klingendes Wort der ganzen Welt gehört. Und manchmal, wenn wir ihnen ganz hingegeben sind, muß unser Antlitz im Abglanz ihrer Züge aufleuchten als Beweis des ungeheuren Erbes, der geistigen Verwandtschaft.

Geraume Zeit ist in Döbling wenig musiziert worden, zumindest wenig Erfreuliches. Das politische Lied, das schon Goethe ein garstiges nennt, erstickte auch hier wie überall alle anderen Stimmen. Zwar konnte die tönende Blume nicht aus dem Boden gerissen werden, sie blühte im verborgenen weiter, vor allem in der Kirchenmusik, deren Aufführungen auch in den bittersten Tagen weder an Qualität noch an Besuch verloren; auch die Kammermusik fand aufgetane Herzen, die sich aus dem barbarischen Gestank der Ereignisse zu ihrem Duft hinretteten; aber es blieb privaten Händen überlassen, den Garten der Musik vor der totalen Invasion durch HJ-Trommel und Akkordeon zu schützen, die gereifte Frucht edler Vergangenheit dem Getrampel der Gleichschaltung zu entziehen. Die Barbarei griff um sich, es galt, die Erinnerung vor ihr in Sicherheit zu bringen. Denn die Erinnerung ist zum Kapital, zum stolzen Palast der Menschheit geworden und in den musikalischen Appartements hat Döbling einen respektablen Anteil an den Hausherrenrechten. Namen, die hier aufklingen, widerhallen in der ganzen Welt und zählen zur geistigen Goldwährung Europas, die keiner Inflation ausgesetzt ist, sondern wie die Geigen je älter, desto kostbarer wird.

Wie erfüllt sind wir wieder vom Gruß der großen Brüder! Von den Klängen der Heldensymphonie, die in Heiligenstadt das Licht der Welt erblickte und Napoleon gewidmet war, aber zerrissen in einen Winkel flog, da der vermeintliche Befreier sich als Diktator entpuppte! Wie erinnerungs-beschenkt stehen wir vor dem anmutigen Häuschen in der Grinzinger Straße, das der größte Dichter und der größte Komponist des neunzehnten Jahrhunderts einen Sommer lang gemeinsam bewohnten, in der Absicht, eine Oper zu schaffen: Dichtung von Grill-parzer, Musik von Beethoven! Wäre das Vorhaben gelungen, würden wir Döblinger den Theaterzettel entblößten Hauptes lesen. Es gelang nicht. Beide waren zu eigenartig, zu sehr in sich selbst hineingebogen, ein Gemeinsames zu finden. Auch erkannten sie im Helldunkel allernächster Nähe einer den andern nicht mit voller Deutlichkeit. Dennoch ließen sie es nicht an Ehrfurcht voreinander fehlen. Beethoven, der vor Königen den Nacken steifte, beugte ihn liebenswürdig zu Gruß und Gegengruß vor Österreichs größtem Dichter.

Wer geht ohne heimliches Grüßen den stillen, seither Beethovengang benannten Weg zwischen Heiligenstadt und Nußdorf, auf dem gleich unsichtbaren Blumen die Gedanken und Melodien der Pastorale wuchsen? Freilich führt dieser Weg auch zu anderen Klängen, die mehr dem Weinglas als dem Wiesenboden entsprießen und von Geige, Ziehharmonika und Gitarre musiziert werden. Diese Art Musik hat sich nie von ihrem Bruder, dem Wein, gelöst. Sie gehören zusammen wie ein Ehepaar und man sollte sie auch nicht trennen. Die Schrammelmusik macht keinen Anspruch auf den Adelsbrief der Kunst, sie begnügt sich mit der bürgerlichen Wiener Zuständigkeit. Auch mit ihr hat sie die Welt erobert, sosehr, daß die wirkliche Kunst dadurch in den Schatten gedrängt wird. Sie gilt im Ausland vielfach als der Wiener Spiegel, darin wir als Genießer, als Phäaken erscheinen. Wären wir es, hätten wir eine unvorstellbar bittere Tyrannis nicht überdauert. Der Ausdruck „Wien wörtlich“ stimmt nicht, denn weder Bierdipplerjargon noch Schrammelmusik sind Wiener Wort und Ton an sich, sind wohl Wiener Konturen, nicht aber Wiener Wesen, dem erst das „Wien geistig“ seinen bleibenden Ausdruck zu geben vermag.

In der Billrothstraße steht, abgesondert vom Straßenverkehr, gleidisam auf einer Galerie, eine Gruppe von Häusern, behaglich, ruhig, als wären sie nur Zuschauer des närrischen Geschehens um sie herum. Sie stammen aus den Jahren, da die Zeit noch unsere Mutter war, die inzwischen unsere Schwiegermutter geworden ist. In einem von ihnen komponierte Hugo Wolf an seinen Liederkreisen, auch er ein Bruder, ein unglücklicher, denn auf der Höhe des Lebens umnachtete sich sein Geist. Wie bei Lenau, warf dieses tragische Schicksal seihe Schatten voraus und verwirrte ihm die Seele mit Düsterkeit, lange, bevor es den Geist zerbrach. „Entbehren sollst du, sollst entbehren“, ist das Begleitwort seines in tiefe Einsamkeit getauchten Streichquartetts.

Hugo Wolf starb 1903. Damals lebte in einem Hause auf der Hohen Warte ein junger Musikus, Sohn eines Photographen, und war eben dabei, seine Verwandtschaft mit den Großen unter Beweis zu stellen: Franz Schreker, der nachmalige berühmte Opernkomponist und geniale Lehrer. Noch als Musikstudent gab er unter der Pa-tronanz des Oberdöblinger Bürgermeisters Kreindl sein erstes Kompositionskonzert, das Fassungslosigkeit und Widerspruch erntete. Neues findet selten Beifall, es erschreckt zu sehr. Wer sich aber selber treu bleibt, zwingt am Ende auch den Erfolg. Die Schreker-Gemeinde wurde immer größer und hat sich aus Döbling über ganz Europa verbreitet. Erst der jüngste Weltwahnsinn hat ihn zerbrochen. Sein Testament sind seine Schüler. Es gab nicht einen unter ihnen, der ihn .nicht geliebt hat, obwohl ihn mancher, da der Hahn krähte, verleugnet haben mag.

Noch einer zerbrach, verbrannte im eigenen Feuer, verzehrte sich an der eigenen Unrast: Gustav Mahler. Er liegt in unserer Erde begraben. Wir bewahren die Toten wie die Lebenden, wir pflegen die Beziehungen zu den großen Brüdern in den Kirchen, in den Häusern, auf den Friedhöfen. Nicht nur Komponisten zählen zu ihnen, auch ausübende Künstler, und ihrer nicht wenige sind dem Döblinger Boden entsprossen oder haben hier die engere Wahlheimat gefunden. Vom Therese-Krones-Haus in Heiligenstadt bis zur Gutheil-Schoder-Villa im Cottage gibt es, örtlich und zeitlidi gesehen, eine ganze Flucht von Musikerheimen, Pflegestätten der holden Kunst, wo sie am holdesten ist: im Lampenschein der eigenen vier Wände.

Zweimal gab es in Döbling sogar' ein Theater. Das erste befand sith im Gartenhaus Pyrkergasse 1, das zweite, spätere, an der Ecke Gymnasiumstraße-Billrothstraße. Was in diesen Theatern gespielt wurde, ist uns nicht überliefert; daß die Musik in ihnen Hausrecht hatte, darf mit Bestimmtheit angenommen werden. Neben diesen Theatern gab es und gibt es bis auf den heutigen Tag Kirchenchöre, Gesangvereine, Tanzkapellen, einmal gab es sogar ein Döblinger Symphonieorchester, allerdings war es von kurzer Lebensdauer. Manche dieser musizierenden Gruppen und Grüppchen gerieten, vom guten Willen allein geleitet, daneben und strandeten in den Untiefen des Dilettantismus, aber die besten unter ihnen blieben doch lebensfähig, bis der politische Wind die Kulissen in Unordnung brachte und sein mörderischer Atem den Krieg ins Land blies. Da schwiegen die Orchester des Friedens, aber die Tage der großen Vergangenheit weiteten das Herz, und ihre tröstende Stimme, wie sehr auch vom Geheul der Sirenen und vom Zerknall der Bomben übertönt, sang tief in uns das Lied der Ewigkeit. Die großen Brüder wurden unsere tiefste Zuflucht, unser unbedrohter Trost und aufs neue unsere Aufgabe. Sie galt es zu retten, zu befreien aus den Klauen der barbarischen Verfremdung. Und so wurden wir eins mit ihnen, mit Gestern und Ewig, mit Geschichte und Traum. Wahr blieb uns im schrecklichsten aller Kriege, in der fürchterlichsten aller Verlogenheiten, was Hans Müller in tiefen Friedenstagen geschrieben hatte: An einer gewissen Ecke der Billrothstraße hört die Wirklichkeit auf.

Wir haben sie überwunden, die tödlichste aller Wirklichkeiten, weil wir die höhere in uns hatten, die unendliche Melodie.

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