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Eine Arbeiierstadt

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Die als „Eisenwurzen“ bekannte, weitere Umgebung des steirischen Erzberges ist der Raum, in dem sich das Schicksal von Kapfenberg vollzieht. Die im unteren Mürztal gelegene Stadt wird häufig die Böhler-Stadt genannt. Mit Recht, denn über 80 Prozent der Bevölkerung sind heute auf Gedeih und Verderb mit einer Arbeitsstätte, dem Edelstahlwerk der Gebrüder Böhler & Co. AG, verbunden. Die Abhängigkeit der Ortsentwicklung vom Aufstieg eines einzigen Unternehmens ist das städtebauliche Charakteristikum Kapfenbergs. Die Bilder der Entwicklungsstadien einer Stadt mit dieser eigenartig einfachen Struktur sind typisch für die Industrialisierung des Alpenraumes. Alle Auswirkungen dieses Prozesses auf Bestand und Wachstum der Ortskörper, die von ihm betroffen waren, können am Beispiel Kapfenberg wie an einem großen Modell erfaßt und erläutert werden. An den Ge-birgswässern der Eisenwurzen wird seit dem frühen Mittelalter Eisen und Stahl erzeugt. Die Wasserkraft als Antriebsmittel bestimmt den Standort der Betriebsstätten. Das 18. Jahrhundert ist die hohe Zeit der Hammerherren. Da setzt im 19. Jahrhundert mit der Erfindung der Kokshochöfen und Siemens-Martin-Öfen die industrielle Entwicklung ein. Die kleinen Betriebe werden unwirtschaftlich, Zusammenlegung auf wenige, günstig gelegene Orte ist die Folge. Tn der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entsteht so die Firma Gebrüder Böhler.

Im ereten Weltkrieg 6teigt der Arbeiterstand von 2400 auf 7500. Der Ausgang des Krieges und die Loslösung Österreichs vom Wirtschaftskörper der Monarchie bringen schwere Erschütterungen. 1931 beschäftigt Böhler 1500 Arbeiter. Die im Kriege errichteten Barackensiedlungen werden zu Elendsquartieren.

Nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich wird in Kapfenberg wieder gebaut. Der Bestandsplan des Jahres 1942 zeigt erste Beweise dafür, daß einige Aufgaben erkannt sind. Das städtebauliche Grundthema des industriellen Zeitalters, d i e Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte, ist erfaßt. Im Chaos des Ortsbildes zeichnen sich zwei neugeplante Werksanlagen und drei geschlossene Siedlungskörper, die den Arbeitsstätten zugeordnet sind, deutlich ab. Die Siedlungen bestehen aus Miet- und Einfamilienhäusern und enthalten bereits einige Geschäfte für den täglichen Bedarf. Die Wohnfläche einer Wohnung schwankt zwischen 60 und 80 Quadratmeter. Das Raumprogramm umfaßt zwei bis vier Wohnräume, Küche, Bad und Klosett. Wieder erzwingt ein Krieg die Einstellung der Wohnbauten, nachdem etwa 1300 Wohnungen fertiggestellt sind. Die Zahl der Arbeiter steigt auf 15.000. Die meisten von ihnen sind Kriegsgefangene und „Fremdarbeiter“. Wieder müssen große Barackenlager gebaut werden. Der Ausgang des zweiten Weltkrieges stellt Werk und Gemeinde vor fast unlösbare Aufgaben. Die Betriebe sind bombenbeschädigt, demontiert und ihrer Vorräte beraubt. Mittel für die Fertigstellung der Wohnbauten fehlen. In dieser kritischen Zeit wird die gesamte Hüttenindustrie Österreichs verstaatlicht. Gemeinsame, entschlossene Anstrengungen von Werkileitung und Belegschaft richten sich zuerst auf die Wiederaufnahme der Produktion. Dabei werden Lehren der Vergangenheit beherzigt. Veraltete Betriebsstätten werden saniert, die Planung der neuen Anlagen erfolgt auf weite Sicht. Mut und Mühe werden von Erfolg belohnt. Der leuchtende Lebensstoff der Stadt fließt bald wieder aus den Schmelzöfen. Schon im Juli 1946 kann der Bau von Wohnungen mit werkseigenen Mitteln aufgenommen werden. 1948 setzt die ERP-Hilfe ein. Im Herbst 1951 haben von etwa 1000 Wohnungssuchenden 240 neue Wohnungen bezogen, 200 Wohnungen sind im Bau. Die Wohnfläche dieser neuen Wohnungen beträgt 45 bis 60 Quadratmeter. Mit ihnen wird zuerst die größte Wohnungsnot gelindert. Drei kleine Wohnungen können später zu zwei größeren umgewandelt werden. Die Vielfalt der möglichen baulichen Lösungen wird mehr und mehr auf zwei Haustypen beschränkt. Das Miethaus mit sechs oder neun Wohnungen in öffentlichen Grünflächen und das Einfamilienreihenhaus mit eigenem Garten. Für die Erzeugung von Edelstahl braucht man eine langjährige erfahrene und werksverbundene Facharbeiterschaft. Daher die Förderung des EinfamilienV'npes in der städtebaulich sparsamen und' daher vertretbaren Form des Reihenhauses.

Der entscheidende Einfluß des Werkes auf die Ortentwicklung ist erkannt und nachgewiesen. Daraus werden erfreuliche Konsequenzen gezogen. In enger Zusammenarbeit ermitteln Gemeindevertretung und Werksleitung die vordringlichen Planungsaufgaben durch eine sorgfältige Grundlagenforschung: Beseitigung der Barackenlager durch Wohnbau, Abschluß der begonnenen Siedlungen und Vervollständigung durch Einfügung von Kirchen, Schulen, Kindergärten, Sportanlagen, Geschäften und Garagen, Sanierung der Verkehrsverhältnisse, Neuaufschließung von klar abgegrenzten Baugelände für Siedlungswillige, Schutz der Bevölkerung gegen Krisen in der Stahlerzeugung durch Förderung aufnahmefähiger Industrien und Gewerbebetriebe. Im Rahmen dieses Programms, dessen Verwirklichung sofort in Angriff genommen wird, muß der soziale Wohnungsbau in Kapfenberg betrachtet werden. Erst dann nämlich, wenn die gesunde Wohnung des arbeitenden Menschen in einen nach Funktionen gegliederten Stadtorganismus eingefügt ist, in dem sich das Leben der Gesellschaft entfalten kann, wird der Wohnungsbau wirklich sozial.

Noch bietet der Raum von Kapfenberg den

Anblick einer großen Werkstätte. Wir haben die Ansätze kennengelernt, mit denen das Werk der Wandlung zur Stadt von morgen eingeleitet ist. Sie muß mit grundsätzlich anderen Zügen im einzelnen eine ähnlich sinnvolle Ordnung im ganzen aufweisen wie das Orts- und Flurbild des Mittelalters. Der Arbeiter als Träger der Technik wird ihr Gesicht entscheidend formen.

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