Die Stunde Null

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Unter dem motto "Fundamentals" stellt Kurator Rem Koolhaas bei der architekturbiennale die globalen Folgen von hundert Jahren moderne und Grundelemente der Disziplin zur Debatte.

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Unter dem motto "Fundamentals" stellt Kurator Rem Koolhaas bei der architekturbiennale die globalen Folgen von hundert Jahren moderne und Grundelemente der Disziplin zur Debatte.

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Rem Koolhaas ist nicht nur ein Leitwolf im Rudel der Stararchitekten, er ist auch ein analytischer Querdenker. Der charismatische Niederländer, der früher Journalist war, stellt in Bauten und Schriften immer wieder etablierte Lesarten der Architektur auf den Kopf. Mit Elia und Zoe Zenghelis und Madelon Vriesendorp gründete er 1975 sein Büro OMA (Office for Metropolitan Architecture), einen interdisziplinären Think Tank, der inzwischen um das Research-Labor AMO ergänzt wurde. Bis dato gingen an die 340 Projekte durch die Hände dieser Büros. Die Bücher "Delirious New York: A Retroactive Manifesto of Manhattan" (1978) und "S,M,L,XL"(1995) sind längst Klassiker, 2010 erhielt Koolhaas den Goldenen Löwen der Architekturbiennale für sein Lebenswerk, 2008 war der Film "Koolhaas Houselife" von Ila Bêka & Louise Lemoine bei der Biennale zu sehen. Er zeigt eine Architekturikone - das Haus in Bordeaux von Rem Koolhaas - aus Perspektive der leidgeprüften Haushälterin Guadalupe Acedo als alltäglichen Wartungswahnsinn: eine souverän selbstkritische, überaus komische Dokumentation.

Heuer kuratierte Koolhaas die Architekturbiennale: Unter dem Motto "Fundamentals" wird grundlegend analysiert, woraus sich Architektur konstituiert. Die Methode der Wahl ist profunde Recherche. Unter dem Titel "Elements" stellt die Hauptausstellung Potential und Entwicklung diverser Architekturelemente zur Diskussion: Boden, Wand, Decke, Dach, Tür, Fenster, Fassade, Balkon, Korridor, Feuerplatz, Toilette, Stiege, Rolltreppe, Aufzug, Rampe. Akzeptiert man diese Fragmentierung der Architekur als Referenz auf das Ganze, eröffnet sich bei jedem Teil ein Universum. Die Präsentation ist praxisnah und anschaulich. Ein epochaler Dialog: Am Eingang stößt die Kopie einer von Galileo Chini bemalten Kuppel aus Florenz (1909) auf den 2,7 Meter hohen Querschnitt einer abgehängten Standard-Decke mit viel Haustechnik (ab 1950). Sie repräsentieren die Haltung der Schönheit einer symbolischen Botschaft und des rationalen Funktionalismus beim Industrieprodukt.

Die Moderne rund um den Globus

Filmausschnitte mit Aufzugsfahrten, Balkonszenen, voyeuristischen Blicken durch fremde Fenster und mehr zeigen die emotionalen Möglichkeiten der Bauteile. Diese werden bezugsreich durchdekliniert: So treffen der Querschnitt der Fassade des Museums der Kulturen von Herzog &deMeuron in Basel (2011) mit seinen schönen, porzellanschimmernden Elementen auf eine Ziegelmauer und den Wandaufbau einer Jurte aus Turkmenistan (1909). Ihr weich gebogenes Holz ist mit Teppichen verkleidet, heutige Akustikwände sind dank hochkomplexer Fasern sehr dünn. Auch der Weg der Toilette von der Latrine aus den Caracalla-Thermen in Rom (100-200 v. Chr) bis zu den blauen Stand-Alone-Toilets, die von EOOS für Slums in Afrika entwickelt wurden, ist lang und vielschichtig: 1976 untersuchte Alexander Kira für sein Buch "The Bathroom" diverse Haltungen beim Pinkeln, Baden, Händewaschen oder duschen. Dieser Blick ist sehr westlich. Trotzdem bleibt "Elements" ein riesiger Fundus an Wissen und Inspiration.

In den Corderie dell'Arsenale richtet sich der Fokus auf das Gastgeberland Italien: "Monditalia" porträtiert verschiedene Regionen mit ihren spezifischen Problemen und wird so zu einem Spiegel der Welt. Das funktioniert überraschend gut. Zu Beginn ist man in einer Installation von Ana Dana Beros mit dem Schicksal von Bootsflüchtlingen in Lampedusa konfrontiert. Wieder werden Filme von Ila Bêka & Louise Lemoine zum eindrucksvollen Zeugnis für den Status quo der Insel "La Maddalena". Einer dokumentiert ein gigantisches Scheitern: den fast fertigen, transparenten Bau, den Stefano Boeri für den G8-Gipfel 2009 plante, der nie stattfand. Der zweite beobachtet einen Einsiedler, der sich aus vom Meer angespülten Resten der Zivilisation im verwilderten Dickicht der Insel Budelli eine Behausung mit Möbeln baut. Assisi wird als Labor der Restaurierung dargestellt, am anderen Ende der Skala stehen das rege, stilbildende Nachtleben in Italiens Discotheken und die "Urbs Oblivionalis": Orte, an denen Mafiosi lebten. Im Kapitel "The Remnants of the Miracle" begegnet man in Agonie und Schönheit dahin vegetierenden Meisterwerken der italienischen Moderne. Parallel dazu zeigen Ausschnitte aus italienischen Filmen populärkulturelle Darstellung und Präsenz von Architektur. Tänzer und Schauspieler, die hier immer wieder live performen, sind Teil des Konzepts: Koolhaas forderte die Biennalen von Musik, Tanz, Kino und Theater zur Partizipation auf.

Die nationalen Beiträge sollten unter dem Motto "Absorbing Modernity 1914-2014" ihre eigene Geschichte der Moderne reflektieren. Fast alle gingen darauf ein, was ermöglicht, lokale Eigenarten und Querverbindungen zwischen Ländern und Einflusssphären zu erkennen. Besonders gut glückte diese Aufarbeitung im französischen Pavillon. Dort steht ein Modell der Villa Arpel, die Jacques Lagrange für Jacques Tatis Film "Mon oncle" entwarf. Dieses Prestige-Haus eines modernen Lebensstils treibt alle vom Stolz in die Verzweiflung. Die Cité de la Muette wurde 1934 als "grand ensemble" errichtet. Es war ein modernes Herzeigequartier für die Massen. In der NS-Zeit hatten es die deutschen Besatzer zu einem Sammellager für rund 65.000 französische Juden gemacht.

Heute erinnert ein Museum von Roger Diener an diese Geschichte. Im israelischen Pavillon zeichnet ein Plotter immer wieder neue städtebauliche Muster und Grundrisse in eine Sandfläche: Ein sinnstiftendes Bild für die auf Sand gebauten Träume der "urburb", einer Mischung urbaner und vorstädtischer Wohnformen. Die harte Wirklichkeit der orientalisch anmutenden Muster wird erst in der Siedlungspolitik Israels deutlich. Christian Kühn, der Kommissär des österreichischen Pavillons, nahm die fällige Renovierung des Parlaments zum Anlass, den repräsentativen Bautyp der Demokratie auf seine Architektursprache hin zu hinterfragen. "Plenum. Places of Power" heißt der von Kühn und Harald Trapp kuratierte Beitrag. 196 weiße Modelle aller Parlamente der Erde im Maßstab 1:500 hängen alphabetisch gereiht an den Wänden. Die gut überschaubare Sammlung zeigt, dass es - abgesehen von Oscar Niemeyer in Brasilien - keinen nennenswerten Beitrag der Moderne zum Bautyp gibt, sondern die meisten auf den Historismus zurückgreifen. Eine Auseinandersetzung mit der modernen Substanz des Pavillons erfolgt im Garten, wo Auböck &Kárász die intendierte Blickachse durch das Tor ins Grüne wieder aufnehmen. Schattige Pflanzen aus aller Welt und Hocker bilden im Freien einen basisdemokratischen Ort, der durch die Klanginstallation von Kollektiv/Rauschen mit der Geräuschkulisse von Demokratiebewegungen auf aller Welt verbunden ist.

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