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Zürcher Impressionen

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Zürich, im Mai

Wann immer man nach Zürich kommt, man kann sicher sein, einige interessante Aufführungen und neue Ausstellungen sehen zu können. Zürich ist eine Weltstadt; mit seinen 410.000 Einwohnern heute die vielleicht kleinste und angenehmste Weltstadt Europas. Das Theater am Central spielt „Von Mäusen und Menschen“, ein Schauspiel von John Steinbeck; das Schauspielhaus „Mein Freund Harvey“ von Mary Chase, daneben Calderon, Schiller, John Patrick; die Theatergruppe der Universität (auch so etwas gibt es in Zürich — Wien dagegen hat sein „Studio der Hochschulen“ schon vor Jahren sterben lassen) führt das chinesische Spiel „Köstlicher Quell“ von S. J. Hsiung auf, in einer sehenswerten Inszenierung. Das kleine Theater „Podium“ ist derzeit auf Urlaub, das Stadttheater gehört der Oper, indes die beiden Säle der „Tonhalle“ für Konzerte bestimmt sind. Zu den Zürcher Festwochen, die in Kürze beginnen, erwartet man Ensembles aus Paris, Mailand und Stratford-on-Avon, so daß in vier Sprachen Theater gespielt werden wird.

Kann sich das Wiener Theaterleben (abgesehen von den Festwochen) neben dem Zürcher ruhig sehen lassen (insbesondere aufführungsmäßig, wenn auch viele neue Stücke verspätet nach Wien kommen), so ist die Ausstellungstätigkeit in Zürich ungleich reichhaltiger und vielfältiger als in Wien. Neben dem Kunsthaus und dem Kunstgewerbemuseum gibt es das Museum Rietberg (ständige Ausstellung der Kunst außereuropäischer Völker, Sammlung von der Heydt), das Landesmuseum, das Helmhaus (derzeit geschlossen), die Graphische Sammlung der Technischen Hochschule, das Stadthaus; die Zahl der kleinen Salons, Kunststuben und Galerien läßt sich gar nicht überblicken. Ohne vollständig sein zu wollen, zählen wir auf: Kunststuben Maria Bene-detti, Küsnacht, Kunstsalon Wolfsberg, „Zum Strau Hoff“, Büchersaal Rechberg, Muraltengut (Kunstgewerbe), Mühlebachstraße (Skulpturen), Bücherstube „Ex libris“ (Kunstexpositionen), Libraire Franfaise,LArt Ancien, Galerie für antike Kunst, Galerie Kunsthandlung Bodmer, Galerie Chichio Haller, Galerie Orell Füssli, Galerie Neupert, Modern Art Centre, Galerie Palette, Galerie Kirchgasse, Galerie Nerny, Galerie Beno, Contempora (angewandte Kunst, Teppiche), Galerie du Theätre am Central, Kunstkeller Bellevue, Galerie „Au Premier“, Galerie Meissner, Salon 33, Galerie 16, Galerie Cluny (Antiquitäten) ...

Nicht alle diese Galerien sind natürlich bedeutend und nicht alle stellen bedeutende Werke aus, gewiß. Aber jeder Kunsthändler hat das Bedürfnis, eine eigene Galerie zu besitzen und neue Expositionen zustande zu bringen. (Wien dagegen besitzt, außer seinen Museen, dem Künstlerhaus und der Secession, nur vier eigentliche Galerien, abgesehen von den Ausstellungen im Konzerthausfoyer, der Akademie der bildenden Künste und den ausländischen Kulturinstituten.) Was wird nun in diesen Galerien gezeigt? Der Kunstsalon Wolfsberg zeigt 40 Gemälde und 100 Zeichnungen von Maurice Barraud (1889 bis 1954), von dem Arbeiten auch im Kunsthaus und in anderen Galerien hängen. „Strau Hoff“ stellt Irmgard Micaela Burchard-Simaika aus, eine Zür-cherin, die nach Aegypten verheiratet ist und Aegypten und Nubien gemalt hat, übrigens gar nicht schlecht. Max Ernst wird in der Galerie Nerny gezeigt, Sandro Alexander bei Bodmer, der Innsbrucker Paul Flora in der Galerie 16, der Bildhauer Robert Ulmann in der Palette, der Senior der Schweizer Maler, Cuno Amiet (geboren 1868), der heute bei Bern lebt, im Kunsthaus und in den Kunststuben Benedetti. Der Kunstkeller Bellevue präsentiert junge finnische Kunst, das Modern Art Centre hat einige Bilder von Cezanne, Klee, Chagall Die Galerie für antike Kunst zeigt Stein- und Tonplastiken aus mexikanischen Ausgrabungen; hier sind besonders wertvolle Stücke vertreten. Der Preis der Vulkansteinskulptur des aztekischen Gottes „Quetzalcoatl“, der „gefiederten Schlange“ (Ende des 15. Jahrhunderts), beträgt 12.000 Schweiber Franken: von eminenter Ausdruckskraft sind die Tonköpfe mit den „lachenden Gesichtern“, die von den Totonaken stammen, etwa 700 nach Christi, und die zapo-tekischen Graburnen aus Ton aus der Zeit 500 bis 1000 nach Christi. Nach diesen Kostproben würde man gerne eine umfassendere Ausstellung altmexikanischer Kunst, ähnlich der Ausstellung etruskischer Kunst, zu Gesicht bekommen. Die Galerie für antike Kunst besitzt daneben noch einige wertvolle koptische Gewebe aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. —.Die ineisten ausgestellten Werke stammen von Schweizer Malern, doch ist es nicht nötig, hier viele Namen zu notieren. Die meisten, die gezeigt werden, darf man getrost vergessen. Neben Amiet verdient der nahe Zürich lebende Max Gubler, der gemeinsam mit Raoul Dufy den Preis der Venediger Biennale für Malerei — der an Bedeutung etwa dem Nobelpreis für Literatur gleichkommt — gewann, am meisten Beachtung.

Die wesentlichsten Ausstellungen sind im Kunsthaus und im Kunstgewerbemuseum untergebracht. Das Kunsthaus hat gerade eine „tote Zeit“; die weltberühmt gewordene Ausstellung „Kunst und Leben der Etrusker“ ist schon geschlossen, die kommende Mondrian-AuSstellung, die 150 Nummern umfassen und einen Ueberblick über sein Gesamtwerk geben wird, noch nicht eröffnet; sie wird zu den Festwochen eingerichtet werden. Aber auch eine solche „tote Zeit“ ist für unsere Begriffe noch sehr lebendig: Ben Nicholson, England, Francis Bott, Paris, und Rosina Viva, Neapel, sind mit großen Kollektivausstellungen vertreten, und aus den Sammlungen werden eine Reihe wertvoller Bilder, insbesondere der Moderne, gezeigt. Eine „tote Zeit“? — nur der Massenandrang, der bei der Ausstellung etruskischer Kunst herrschte und es mitunter schwierig gestaltete, in die Nähe der einzelnen Objekte zu gelangen, hat nachgelassen; aber auch jetzt zählt das Kunsthaus an einem gewöhnlichen Wochentag weit über hundert Besucher. Man kommt den Besuchern freilich auch entgegen. Der Eintritt ist mit sfr. 1.50 (Studenten sfr. 1.—, im Kunstgewerbemuseum sfr. 1.— und —.50) zwar nicht billig, kostet aber immerhin nicht mehr U der 3. Platz im Kino. Die Besuchszeiten sind an Wochentagen von 10 bis 17 Uhr und von 20 bis 22 Uhr; auch die meisten Galerien und das Kunstgewerbemuseum kennen den Abendbesuch, wenn auch oft nur an einzelnen Wochentagen. Der Platzmangel im Kunsthaus, das zwei Stockwerke besitzt, ist in letzter Zeit immer fühlbarer geworden. Endlich soll jetzt der Plan einer Erweiterung, der Anbau eines zweiten Kuftsthauses; verwirklicht werden. Bereits vor zwölf Jahren wurde ein Wettbewerb durchgeführt, doch werden die Pläne für das Projekt, das damals prämiert wurde und das zwei große Ausstellungshallen mit Stellwänden vorsieht, heute vielfach bereits als überholt bezeichnet, und man sieht der endlichen Verwirklichung des Projekts nur mit geteilter Freude entgegen. Nicht zuletzt ist das nunmehrige Zustandekommen (einige alte Baulichkeiten wurden weggerissen und die Erdarbeiten haben begonnen) einer Persönlichkeit der Industrie zu danken, die für den Bau sechs Millionen Schweizer Franken zur Verfügung stellte; solche Ausgaben für Kunst und Wohltätigkeit sind in der Schweiz keine Seltenheit, da die dafür aufgewendeten Beträge steuerfrei sind.

Ueberhaupt wird in Zürich sehr viel gebaut; man hat manchmal fast den Eindruck, in einer kriegszerstörten Stadt zu sein, in der der Wiederaufbau raich voranschreitet. Oft ist es wirklich ein Wiederaufbau; vor allem in der Altstadt werden zahlreiche Häuser abgerissen, um die es meist ehr schade ist, und durch neue, meist stillose, ersetzt. Oder man läßt die Fassaden stehen und baut innen um, um günstiger vermieten zu können.

Mit dem Aprilheft 1955 hat die „Neue Schweizer Rundschau“ ihr Erscheinen eingestellt. Sie wurde 1907, zunächst noch unter dem Titel „Wissen und Leben“, gegründet; seit 1923 hieß sie „Neue Schweizer Rundschau“. Max Rychner und zuletzt Walther Meier (seit 1933) leiteten durch viele Jahre die Redaktion. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage war zu knapp geworden. Außerdem klagte Walther Meier darüber, daß in der Schweiz kein wirkliches literarisches Leben, keine wirkliche literarische Schicht, keine literarische Atmosphäre und keine große literarische Kritik außerhalb der Universität, wie in Frankreich, bestehe. — Aber dafür gibt es sie hier wenigstens auf der Universität, wo man jung und aufgeschlossen genug ist, sich auch eingehend mit der Gegenwartsliteratur auseinanderzusetzen. Nun bleibt der Schweiz als einziges literarisch-kulturelles Organ von Rang die „Schweizer Rundschau“. Das Ende der „Neuen Schweizer Rundschau“ und seine Ursachen aber zeigen, daß auch in Zürich, dem geistigen Zentrum der Schweiz, manches als „öde“ empfunden wird und es, bei aller Betriebsamkeit, mit- • unter an der Initiative am rechten Fleck mangelt.

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