Der geklonte Besucher

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Die Kultur-Vermittlung in den österreichischen Museen und Galerien läßt zu wünschen übrig.

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Die Kultur-Vermittlung in den österreichischen Museen und Galerien läßt zu wünschen übrig.

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Soziologen beobachten eine seit dem ausgehenden Mittelalter zunehmende Individualisierung in der westlichen Gesellschaft. Wie reagiert nun der Museumsbetreiber, der Galerist, der Ausstellungsmacher darauf? Er tut, als gäbe es sie nicht, als könnte man alle über einen Kamm scheren. Für ihn scheint es nur den Besucher zu geben. Hat man sich darunter ein von einem Ausgangsmodell geklontes Wesen vorzustellen, das in beliebiger (hoffentlich nicht zu geringer) Anzahl auftritt oder soll man dabei an eine leicht frustrierte Ehefrau mit vermeintlich verpaßten Karrierechancen, einen vom Leben enttäuschten Postbeamten, einen Schrebergartenbesitzer, dem die Welt gehört, oder eine selbstbewußte Schmuckdesignerin denken. Klischees, nicht wahr? Die Zielorientierung mancher Kulturwerbung wendet sich noch nicht einmal dem Klischee zu. Damit wären wenigstens jene erreicht, die mangels eigenen Profils einem Leitbild ihre Identität verdanken. Nein, schlimmer noch, sie werden ignoriert: die Blinden, die Mittvierziger, die Fleischhauer, die Goldschmiede - jene, die zumindest durch ein gemeinsames Merkmal zu Gruppen zusammengefaßt sind. Davon, daß es unter den Blinden Berufstätige, Depressive, Egoisten und Familienväter gibt, gar nicht zu reden. Lediglich die Schüler konnten sich bisher als Zielgruppe etablieren. Und an manch fortschrittlichen Museen sind auch die Senioren dabei, als Gruppe mit speziellen Bedürfnissen wahrgenommen zu werden.

Aber zwischen den beiden Extremen der spezifischen Betreuung des Individuums und der Kultur-Vermittlung für ein breit gestreutes Publikum muß es einen pragmatischen Weg geben. Wie absurd wäre es, pro Besucher einen eigenen Führer oder Museumspädagogen abzustellen. Ein Museum ist schließlich kein 5-Sterne-Hotel mit einem Gäste-Personal-Verhältnis von 1:1. Ebenso absurd ist es aber, 30 Leuten, die sich willkürlich zusammengefunden haben, eine Betreuungsperson zuzuteilen. Dabei kann wohl kaum mehr als ein Informationsfluß (nicht Austausch!) sachlichen Inhalts erfolgen, womit zwar der dokumentarische Aspekt mehr oder weniger befriedigend zur Geltung gebracht wird, eine Identifikation mit dem Dargestellten jedoch ausbleibt.

Beziehung aufbauen Der bildenden Kunst als Studienobjekt der Realienkunde kommt gewiß ein bedeutender Stellenwert zu, gibt sie doch Aufschluß über die Mode im 15. Jahrhundert oder die Schlafgewohnheiten im Biedermeier, die Jagdtechnik zu Zeiten Kaiser Maximilians I. und vieles mehr. Auch gehört es sich für einen gebildeten Menschen, Namen wie Rembrandt und Rubens zu kennen. Selbstverständlich erkennt man einen Salvador Dali; und wer bereits eine Vielzahl von Stunden stehend im Museum verbracht hat, den Blick abwechselnd auf die Lippen der Führerin und das Kunstwerk heftend, der erkennt vielleicht auch noch andere. Erkennen, wiedererkennen, beschreiben können, die Biographie kennen, die historischen Hintergründe kennen, über die Kunst reden können ... Kunst kommt von Können. - Oder nicht?

Was hat das Kunstwerk mit uns zu tun? Das ist die Gretchen-Frage. Sie schließt intellektuelle und gefühlsmäßige Aspekte mit ein. Beide haben ihre Berechtigung. Immerhin kommt der Kunst, anders als dem wissenschaftlichen Vortrag, die Funktion zu, die Seele zum Schwingen zu bringen. Die intellektuelle Überfrachtung bisheriger Kulturvermittlung hat uns das fast vergessen lassen. Wenn Sie ein Kleid in der Auslage sehen, reagieren Sie unbewußt mit Begeisterung oder Ablehnung. Einem Gemälde stehen viele ziemlich gleichgültig gegenüber. Warum? Kleider sind für jedermann, Gemälde dem Bildungsbürgertum vorbehalten. Hermann Nitschs Aktionismus ärgert Sie vielleicht, das todchice Kleid weckt Ihre Kauflust - beiderseits Gefühlsintensität. Versetzt Picasso Ihre Nerven auch in Spannung? Bei Rembrandt fällt es schon schwerer, Stellung zu beziehen. Er vertrat oft eine engagierte Kunst, er hatte Mut, Kritik zu üben durch seine Gemälde, er konnte es sich auch leisten. Wie steht's mit Ihnen, können Sie sich Kritik leisten?

Erst die Identifikation schafft die Beziehung. Die Filmindustrie setzt dieses Wissen um die menschliche Psyche gekonnt ein. Sie weinen, wenn der Held stirbt, weil Sie "mitleben". Geschickt eingesetzte filmische Gestaltungsmittel bringen Sie dazu.

Bringt der blutige Aktionismus eines Hermann Nitsch Ihre Seele zum Schwingen? Nun, ich würde sagen, Sie beziehen Stellung. Sie bleiben nicht stumm, Ihre Seele ist berührt, die Moral regt sich. Sie sind betroffen. Der erste Schritt ist vollzogen, der Kontakt zum Kunstwerk da. Bei weniger provokativen Arbeiten läßt die Reaktion meist länger auf sich warten. Je größer der zeitliche Abstand, desto schwerer fällt die Kontaktaufnahme mit dem Kunstwerk. Liegen erst einmal Jahrhunderte zwischen uns und dem Kunstwerk, wird es fast unmöglich. Wir kennen die Begleitumstände, die damalige Geisteshaltung, die Alltagserfahrung unserer Vorfahren zu wenig, um sofort eine Beziehung aufbauen zu können. Hier ist sozialgeschichtliche, alltagsgeschichtliche und kunstgeschichtliche Wissensvermittlung notwendig. Sie darf aber nur als Teilbereich gesehen werden. Eine ernstzunehmende Kunstvermittlung muß von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehen - Intellekt und Gefühl erreichen. Ich habe 15 Jahre gebraucht, um Zugang zu den Bildern des Landecker Malers Norbert Pümpel zu finden. Heute behaupte ich nicht, Pümpel zu verstehen, aber seine Bilder sind mir Zeugnis dafür geworden, wie verschieden die Welten sind, in denen wir leben. In einer so schnellebigen Zeit, die kaum erlaubt, alle Exponate einer Ausstellung zu betrachten, kann man wohl von keinem Betrachter erwarten, daß er sich jahrelang, ja nicht einmal lang, mit einem Künstler beziehungsweise einem Bild auseinandersetzt.

Diese Mühen abzukürzen, mit kniffligen Tricks eine Beziehung zwischen Betrachter und Ausstellungsgegenstand aufzubauen, ist Aufgabe der Kulturvermittlung. Dem Bild die Töne zu entlocken, die die Seele zum Schwingen bringen, heißt die Devise. Vielleicht geht uns das Kruzifix von Friesach in Kärnten doch etwas an. Womöglich sogar die Atheisten?

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